Hörspiel des Monats November 2022
Faust (hab’ ich nie gelesen)
von Noam Brusilovsky
Regie: Noam Brusilovsky
Komposition: Tobias Purfürst
Redaktion: Andrea Oetzmann
Produktion: SWR/DLF
Länge: 74:37 Min
Ursendung: SWR 2, 27.11.2022
Die Begründung der Jury
In seinem autofiktionalen Hörspiel „Faust (hab’ ich nie gelesen)“ schließt Noam Brusilovsky einen Pakt mit dem Teufel: Der Regisseur ist in Israel als Sohn argentinischer Eltern, deren Vorfahren osteuropäische Juden waren, geboren und kam 2012 zum Studium der Schauspielregie nach Berlin. Seit zehn Jahren lebt und arbeitet er nun in Deutschland und möchte darum auch die deutsche Staatsbürgerschaft und einen EU-Pass eantragen. Für die Antragsunterlagen benötigt er eine Bestätigung von seinem Arbeitgeber, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dass seine Arbeit einen wertvollen Beitrag zur deutschen Kultur und Gesellschaft leistet. Eine Hörspiel-Redakteurin ist bereit, ihm solch eine Bestätigung zu schreiben, wenn er dafür die neueste „Faust“-Hörspielinszenierung eines gerade verstorbenen Kollegen kurzfristig übernimmt. Die Produktion mit hochkarätiger Besetzung soll schon in wenigen Tagen beginnen. Obwohl er den „Faust“– aus vielen, komplexen und guten Gründen – nie gelesen hat, lässt Brusilovsky sich auf den Deal ein: Der Pakt „Deutsche Staatsbürgerschaft gegen Faust-Inszenierung“ ist geschlossen.
Nach dieser Eröffnungssequenz folgen so schöne wie humorvolle, tiefgehende und kritische Annäherungen an den Säulenheiligen der deutschen Theatergeschichte, wobei der Clou darin besteht, dass Brusilovsky den „Faust“ für sein Regiekonzept noch immer nicht liest und stattdessen die Bedeutung dieses Stückes in der deutschen Geschichte und Gegenwart recherchiert. So gelingt ihm ein unglaublich vielschichtiges und kluges Hörspiel, das uns ex negativo „Faust“ erzählt: Thematisiert wird das Nicht-gelesen-haben dieses urdeutschen Textes, der seit Generationen Schul-Pflichtlektüre ist. Über O-Töne aus einer Straßenumfrage von Menschen verschiedenen Alters, die allesamt berichten, dass sie Faust nicht gelesen haben, oder gelesen haben, aber den Inhalt nicht wieder geben können, oder lesen mussten, weil es von ihnen verlangt wurde, oder lediglich irgendwie schon mal davon gehört haben, wird deutlich, wie absurd die Fixierung auf diesen Text „über die deutsche Seele“ eigentlich ist.
Darüber hinaus sucht Brusilovsky verschiedene Expert:innen auf und spricht mit ihnen über die Bedeutung des „Faust“. Einer davon ist sein ehemaliger Dramaturgie-Dozent, bei dem er während seines Regie-Studiums das Stück in einem Seminar durchnahm und dem er nun gesteht, dass er die ganze Zeit nur vorgab, es gelesen zu haben. Brusilovsky ist zu Gast bei einer Abiturklasse, die sich mit dem „Faust“ als Prüfungsstoff rumschlägt; er trifft „Logo“, den Autor, der den Wikipedia-Artikel zu „Faust“ angelegt hat und betreut; er ist zu Gast bei Julius Deutschbauer, der die Bibliothek ungelesener Bücher in Wien betreibt und Interviews führt mit Menschen über jene Bücher, die sie nicht gelesen haben; und schließlich trifft er die Professorin Nitsa Ben-Ari, die den „Faust“ ins Hebräische übersetzt hat und zudem mit dem „Deutsch-Hebräischen Übersetzerpreis“ ausgezeichnet wurde. Auch gelingt es Brusilovsky zu thematisieren, wie der „Faust“ im Theater und im Rundfunk während des Nationalsozialismus auch zu Propagandazwecken missbraucht wurde.
Zuletzt erleben wir Brusilovskys feierlich und herrlich ironisch inszenierte Einbürgerung, wobei hierüber deutlich gemacht wird, wie diskriminierend dieser Prozess eigentlich ist, wenn zum Beispiel Migrant:innen gefragt werden, ob es in Deutschland erlaubt sei, seine Kinder zu schlagen. Als ob dies im Ausland selbstverständlich und an der Tagesordnung wäre und Bewerber:innen für den Erhalt der deutschen Staatsangehörigkeit zunächst „zivilisiert“ werden müssten.
In „Faust (hab’ ich nie gelesen)“ gelingt Noam Brusilovsky eine Art Meta-Inszenierung, die über die Thematisierung des Nicht-Lesens so viel mehr über das Stück und dessen Bedeutung zu erzählen vermag, als es mit einer klassischen Inszenierung möglich gewesen wäre. Das Hörspiel bietet über verschiedenste, kontrastierende Ebenen einen so humorvollen wie spannenden und zugleich politisch brisanten Zugang zu diesem Klassiker der Weltliteratur, der weit über das Stück hinausweist.
Lobende Erwähnungen
Eine lobende Erwähnung spricht die Jury gleich zwei Stücken des Monats November aus: „Vogel Igel Stachelschwein“ von Mara May und Jūratė Braginaitė und „Entgrenzgänger II“ von Robert Schoen. Beide Stücke funktionieren nach ähnlicher kreativ-spielerischer Machart, sind jedoch trotzdem völlig anders und eigenständig. Sie nehmen uns jeweils mit in die Realität eines Ortes bzw. einer Region und bringen uns die Menschen dort nahe. Beide Stücke zeigen uns das, was sie vorfinden und erzählen in liebevoller, genauer und poetischer Art vom Leben an völlig unterschiedlichen Orten
Das Hörspiel des Monats wird am 07.01.2023 um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk (DLF) wiederholt.
Die Nominierungen
BR, Dana von Suffrin: Blut
DLF, keine Nominierung
DLF Kultur, Maurice Blanchot: Aminadab
HR, Robert Schoen: Entgrenzgänger II
MDR, Mara May / Jūratė Braginaitė: Vogel Igel Stachelschwein. Ein Spiel in Weimar Nord
NDR, Georges Simenon: November
RB, keine Nominierung
RBB, LiveLove Kollektiv: Kino Komet
SR, keine Nominierung
SWR, Noam Brusilovsky: Faust (hab‘ ich nie gelesen)
WDR, Leonie Below: Vom Erdboden
ORF, John Cage / Stefan Weber: TACET – Die Stille
SRF, Wolfram Höll / Johannes Mayr: Die eingebildete Maske
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