Hörspiel des Monats Mai 2024
Raumzeit
von Luise Voigt
Regie: Luise Voigt
Komposition: Nicolas Haumann
Dramaturgie: Cordula Huth
Produktion: HR/DLF Kultur 2024
Länge: 58:22
Ursendung: 12.05.2024, 14.00 Uhr
Die Begründung der Jury
Schon mit dem Titel und dem gedanklichen Ansatz schreibt sich Luise Voigt in die Tradition von Kants kritischer Philosophie ein, von der wir gelernt haben, dass u.a. Raum und Zeit lediglich Konzepte unseres Erkenntnisvermögens sind, mit deren Hilfe wir Welterfahrungen überhaupt erst machen können, und dass die Welt, von der wir wissen, lediglich die Version ist, die uns diese Konzepte und unsere Sinnesorgane vermitteln; wir leben in der Welt, wie sie uns vorkommt, erreichen aber nie die Welt, wie sie an sich ist. Das Hörspiel „Raumzeit“ nimmt uns mit auf einen Spaziergang durch die Vorstellungen älterer und zeitgenössischer Philosoph:innen. Voigt öffnet damit einen breiten Fächer von Weltwahrnehmungsmöglichkeiten.
So bekommen wir u.a. durch Karl Ernst von Baer vorgerechnet, wie unsere Erlebniswelt anmuten würde, wenn wir Wesen mit einer vierzigminütigen Lebensspanne wären, und, zum Beispiel gegen Abend geboren, auf eine düstere Prognose einer viele Generationen dauernden Finsternis schließen müssten, im Gegenzug bei einer extremen Langlebigkeit etwa den Blumenwachstum als aufschießendes Raketenspektakel erleben würden. – Wir bekommen Giorgio Agambens Hinweis auf den Biologen Jakob von Uexküll vermittelt, der uns die Welt aus der Erlebnisqualität einer Zecke beschreibt. Sie ist reduziert auf drei Faktoren: den Unterschied von Hell und Dunkel, den Duft von Milchsäure, die der Haut von Warmblütern entsteigt und den einzigen Gegenstand von Begehrlichkeit, eine beliebige Flüssigkeit von 37 Grad Wärme. – Und die Philosophin Karen Barad erinnert daran, dass die Elektronen in ihren Umkreisungen um ihre Atomkerne nie lokalisierbar sind und nicht als Dinge, sondern als Bewegung gedacht werden müssen. Sie entfaltet uns daraus die Welt nicht als Status, sondern als dauernden Prozess: Sein ist prozesshaftes Tun.
Die Musik (Nicolas Haumann) hat nicht einfach Soundtrackfunktion. Eigenkompositionen, Einspielungen und exzellenten Coverversionen von Stücken aus der Musikgeschichte tragen dazu bei, dass nachgerade eine epistemologische Liturgie entsteht; so etwa Purcell („Oh Solitude“), Bach („Oh Ewigkeit, du Donnerwort“), die Rockband Pixies („Where is my Mind“), Simon and Garfunkel („Sound of Silence“), Sun Lux („Easy, easy. Pull your Heart to make the being alone“) und Haumann („Leonore fuhr ums Morgenrot, und als sie rum war, war sie tot“). Auf je eigene Weise helfen sie mit, uns auf eine offene Denkweise einzustimmen und über das Gehörte nachzudenken. „With your feet on the air and your head on the ground“, so sollte dieses Hörspiel angehört werden: Mit den Füssen in der Luft und dem Kopf nach unten gebettet, um sich hörend von der Vorstellung unseres durch Schwerkraft geprägten Raumgefühls verabschieden zu können.
Hat Kant bekannt: „Ich musste das Wissen aufheben, um für den Glauben Platz zu bekommen“, so sind wir von Luise Voigt und ihrem hervorragenden Ensemble dazu eingeladen, eine Stunde lang allen Glauben und alle Meinungen aufzuheben, um für das Bewusstsein der Formenvielfalt und der Grenzen möglichen Wissens Platz zu bekommen. Wir haben die Einladung angenommen und zeichnen „Raumzeit“ als Hörspiel des Monats Mai 2024 aus.
Lobende Erwähnung: „Schall und Wahn“ von William Faulkner
Walter Adlers meisterliche Umsetzung von William Faulkners „Schall und Wahn“ (SWR) mit einem glänzenden Großensemble möchten wir dringend empfehlen. Die Produktion mit ihrer hochmusikalischen Verwebung der erzählerischen und der szenischen Ebene erweitert die Buchlektüre um eine wesentliche Erlebnisdimension.
Das Hörspiel des Monats wird am Samstag, den 03.08.2024 um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk (DLF) wiederholt.
Die Nominierungen
BR, Eva Meyer / Eran Schaerf: Europa halbnah
DLF, keine Nominierung
DLF Kultur, Enis Maci und Camille O:: Lorbeer
HR, Luise Voigt: Raumzeit
MDR, Volker Braun: Werktage
NDR, keine Nominierung
RB, keine Nominierung
RBB, keine Nominierung
SR, keine Nominierung
SWR, William Faulkner: Schall und Wahn
WDR, Magdalena Schrefel: was zündet, was brennt
ORF, keine Nominierung
SRF, Dominik Bernet: Shikimicki (ARD Radio Tatort)
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