Hörspiel des Monats Mai 2020
The Revolution Will Be Injected
von Orlando de Boeykens, Tucké Royale, Hans Unstern
Regie und Komposition: Orlando de Boeykens, Tucké Royale, Hans Unstern
Dramaturgie: Johann Mittmann und Julia Gabel
Produktion: DLF Kultur
Länge: 55:33
Erstsendung: 14.05.2020, DLF Kultur
Die Begründung der Jury
„Was für eine Feministin bin ich heute: eine Feministin, abhängig von Testosteron oder ein transgeschlechtlicher Körper von Feminismus abhängig? Ich habe keine Wahl, ich muss meine Klassiker revidieren und meine Theorien diesem Erdbeben des Testosterons aussetzen.“
Orlando de Boeykens, Tucké Royale und Hans Unstern verhandeln in ihrem Hörstück „The Revolution Will Be Injected“ die selbstbestimmte Injektion von Testosteron und die daraufhin langsam einsetzende Transformation von einem weiblichen in einen männlichen Körper. Die Entscheidung zur Einnahme des Hormons führt zu einer umfassenden Erschütterung im Leben der Protagonist*innen: Geschlechterkonzepte, gesellschaftliche Sichtweisen, aber auch die eigene Körperwahrnehmung, Vergangenheit und Identität werden hinterfragt, neu verordnet und definiert. In einer äußerst gelungenen Komposition aus verschiedenen Textsorten wie Packungsbeilagen, persönlichen Erfahrungsberichten, Sachtexten und performativen Elementen begleitet das Hörspiel den Entscheidungsprozess zum Testosteron und führt vor Augen, was eine solche Transformation bedeutet.
Eine besondere Leistung der Hörspielproduktion liegt darin, dass die Auswirkungen und Dimensionen der durch Testosteron erzeugten Veränderungen auch für die Hörer*innen nachvollziehbar werden. Klug und empathisch leistet „The Revolution Will Be Injected“ so einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung über non-binäre Identität und Transgender und damit auch gegen Diskriminierung von Homo-, Bi-, Inter- und Transsexualität. Das macht es zum Hörspiel des Monats Mai!
Die Text- und Soundmontage lässt die Zuhörer*innen in die Gefühlswelt einer Trans-Person eintauchen und berührt dabei ein hochpolitisches und gesellschaftlich relevantes Thema. Durch den Wechsel zwischen deutscher und englischer Sprache, zwischen Sprechtext und Song, findet das Hörspiel auch eine schlüssige Form für den Zustand des „Inbetween“, des Dazwischen-Seins, der die thematische Ebene bestimmt. Sich als non-binär zu identifizieren und in einer binär strukturierten Geschlechterordnung zu bewegen, beinhaltet viele Schwierigkeiten, Diskriminierungserfahrungen und Gefahren. Erst recht, wenn die durch das Testosteron herbeigeführte Veränderung des Phänotyps dazu führt, dass man von der Umwelt zwar als Mann gelesen wird, aber nicht automatisch dem Klischee eines Mannes entsprechen will. Die Packungsbeilage, die vor den Konsequenzen der Einnahme des Hormons für Frauen warnt, da diese bei Doping-Kontrollen positiv getestet werden könnten, ist nur ein Beispiel einer beschränkten Weltsicht, in der die Begriffe von Frau und Mann auf einer chromosomalen Definition beruhen. „Das Labor setzt einen männlichen Nutzer voraus, der auf natürliche Weise nicht ausreichend Androgen produzieren kann und der offenkundig heterosexuell ist“, heißt es im Hörspiel.
Mitreißend, klug und witzig erzählt „The Revolution Will Be Injected“ davon, wie es ist, wenn über den Körper eine zweite Pubertät hereinbricht, von der Problematik der Toilettenwahl und gesellschaftlicher Isolation, weil die Community die nicht ungefährliche medizinische Anwendung kritisiert. Neben der Schilderung intensiver körperlicher Erfahrungen eröffnet das Hörspiel u. a. mit Texten bekannter Gendertheoretiker*innen wie Paul B. Preciado einen notwendigen Diskurs über gesellschaftliche Norm und Moral: „Ich verabreiche mir nicht nur das Hormon, das Molekül, sondern ebenso sehr die Idee dieses Hormons: eine Reihe von Zeichen, Texten und Diskursen, den Prozess, durch den das Hormon synthetisiert werden konnte, die technische Sequenz, durch die es sich im Labor materialisiert. Ich injiziere mir eine hydrophob und kristallin karbonisierte Kette von Steroiden und mit ihr ein Stück Geschichte der Moderne“, so Tucké Royal im Stück.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität und damit, was diese das eigene Verständnis von Feminismus prägt, verbindet „The Revolution Will Be Injected“ mit dem Werk der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux, zu deren 80. Geburtstag zwei Hörspielproduktionen erscheinen. Für eine davon, „Erinnerung eines Mädchens“, in der Hörspielbearbeitung von Irene Schuck produziert vom Südwestrundfunk, spricht die Jury eine lobende Erwähnung und ausdrückliche Hörempfehlung aus. Ernaux schonungslose Sektion der eigenen Biografie führt auf erschütternde Weise auf, wie gesellschaftliche Rollenmuster unser aller Biografien prägen und beschädigen. Und dass wir zwar vielleicht etwas weiter gekommen sind seit 1958, aber nicht annähernd weit genug.
Die Sendung wird am 01.08.2020 um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk (DLF) wiederholt.
Die Nominierungen
BR, Siegfried Lichtenstaedter, Richard Oehmann: Der jüdische Gerichtsvollzieher
DLF, keine Nominierung
DLF Kultur, Orlando de Boeykens, Tucké Royale, Hans Unstern: The Revolution Will Be Injected
HR, Annie Ernaux: Der Platz
MDR, keine Nominierung
NDR, Frank Schulz: Szenen in Beige
RB, keine Nominierung
RBB, Ralf N. Höhfeld: Notaufnahme
SR, keine Nominierung
SWR, Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens
WDR, keine Nominierung
ORF, keine Nominierung
SRF, Matthias Berger, Gion Mathias Cavelty, Lukas Holliger: Das dritte Ohr
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