Hörspiel des Monats Juni 2014

Nach dem Verschwinden.
Ein fiktiver Dialog mit Ilse Aichinger

Von Christine Nagel
Regie: Christine Nagel
Redaktion: Juliane Schmidt
Ursendung: RBB Kulturradio, 20.06.2014
Länge: 50’32“

Die Begründung der Jury

Die Jury hat großen Respekt und einhellige Bewunderung für die Hörspieleinrichtung „November 1918“ (NDR/SWR), basierend auf Alfred Döblins voluminösem Roman. Norbert Schaeffer gelingt ein spannendes, liebevoll bearbeitetes, aufwändig gemachtes Hörspiel-Panorama. Dennoch hat sich die Jury entschieden, dem genuinen Hörspiel den Vorzug zu geben. Denn zwei Literatur-Hörspiele standen sich gegenüber – zum einen die Bearbeitung eines kunstvollen, sprachmächtigen Romans, zum anderen die feinfühlige, poetische Auseinandersetzung mit einer Avantgardistin der Nachkriegsliteratur und des Hörspiels.

„Nach dem Verschwinden“ ist ein „fiktiver Dialog“ mit der seit knapp zwei Jahrzehnten wieder in Wien lebenden Schriftstellerin Ilse Aichinger (*1921). Die 1969 geborene Hörspielautorin Christine Nagel nähert sich ihr mit den Mitteln des Hörspiels, versucht, mit radiophonen Einfällen und sprachlichen Bildern dem enigmatischen Wesen und der Poesie Ilse Aichingers näher zu kommen. Das Verschwinden ist eine zentrale Metapher im Werk der österreichischen Dichterin: Wo ist man nach dem Verschwinden, was bedeutet Verschwinden?

Christine Nagel greift viele Bilder aus den Prosaarbeiten der Autorin auf, etwa den grünen Esel, der über die Eisenbahngleise geht, oder den Vater aus Stroh. Sie umkreist eine Art alter Ego der Autorin, deren Zwillingsschwester 1938 auf der Fahrt nach England, wo jüdische Kinder aufgenommen wurden, verschwand. Sie führt eine junge Schauspielerin ein, die auf der Suche nach Arbeit ist und die bei den Wiener Verkehrsbetrieben vorspricht, um später die Namen der Haltestellen einsprechen zu dürfen. Auch sie ist eine Sprachsuchende, eine Spiegelnde, wunderbar gelesen von Verena Lercher.

Schließlich ist es die großartige Stimme von Ilse Aichinger selbst. Sie wirkt wie die Erzählerin, sie motiviert, sie animiert. Man könnte ihr stundenlang zuhören. Wer sich dieses Hörspiel, diesen „fiktiven Dialog“ anhört, bekommt Lust auf die Literatur der wunderbaren Ilse Aichinger.

 

Die Nominierungen

BR, Ergo Phizmiz: Hollywood: A Bestiary. Live Studioperformance
D-Kultur, Irmgard Maenner: Lichtbogen
HR, Elias Canetti & Michael Obst: Die Befristeten. Konzert-Hörspiel
MDR, Thilo Reffert: Kurschatten. Radio-Tatort
NDR, Alfred Döblin: November 1918 – Eine deutsche Revolution
RB, keine Nominierung
RBB, Christine Nagel: Nach dem Verschwinden. Ein fiktiver Dialog mit Ilse Aichinger
SR, keine Nominierung
SWR, Peter Englund: Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs. Erzählt in neunzehn Schicksalen
WDR, Dirk Laucke: Als wir Krieg spielten

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