Hörspiel des Monats Dezember 2022

Ein Käfer, der Erinnerungen frisst

von Fabian Raith und Sofie Neu

Regie: Fabian Raith, Sofie Neu
Komposition: Martin Recker
Redaktion: Julia Gabel und Johann Mittmann
Produktion: DLF Kultur
Länge: 54:53 / online: 61:03 Min.
Ursendung: DLF Kultur, 8.12.2022

Die Begründung der Jury

Es ist das Jahr 2035: Mika, die zentrale Figur des Hörspiels „Ein Käfer, der Erinnerungen frisst“ von Sofie Neu und Fabian Raith, begibt sich mithilfe eines veralteten Elektronik-Tools – einem Tablet – auf einen dem Jahr 2022 zugeordneten Augmented-Reality-Walk mit dem Titel „Hinterlassen“ durch ihre Stadt. Darin heißt es unter anderem in Bezug auf Denkmäler im Stadtraum: „Öffentliche Erinnerungen blicken zurück und prägen unseren Blick in die Gegenwart durch das Schöpfen aus der Vergangenheit – wie eine künstliche Intelligenz, die aus vergangenen Mustern zukünftige entwirft.“

In diesem Hörspiel geht es um Erinnerungen, um verloren gegangene Erinnerungen, um sich überlagernde Erinnerungen, um absichtlich verwischte Spuren, um vermeintlich auf ewig konservierte Erinnerungen von Nahestehenden, seien es Fotos, seien es Sprachnachrichten, seien es Texte. Vermeintlich ewig konservierbare Erinnerungen und Datensätze deswegen, weil eine neue Spezies, ein Käfer, der es auf Edelmetalle und seltene Erden abgesehen hat, sich durch Serverfarmen durchfrisst und somit zuvor auf Clouds gespeicherte Datensätze unbrauchbar macht bzw. gänzlich vernichtet. Die Idee ist ein kluger Schachzug der beiden Autor- und Regisseur.innen Sofie Neu und Fabian Raith: Trotz aller Technikgläubigkeit unserer Gegenwart und Heilsversprechen der Digitalisierung ist die Natur letztlich stärker.

Mika, von den Autor:innen als queere Person angelegt, hat die digitalen Erinnerungen ihrer verstorbenen Mutter durch das gefräßige Insekt verloren und kämpft nun mit dem Wiedererinnern von Episoden, die sie mit ihrer Mutter durchlebte. Mika versucht Szenen aus der Vergangenheit zu rekonstruieren, etwa den genauen Tonfall in der erinnerten Stimme der Mutter in Gedanken wieder herzustellen, wobei wir diese imaginären Erinnerungsversuche sowie alle Gedanken Mikas mithilfe der klassischen Hörspieltechnik des inneren Monologs erzählt bekommen.

Dabei stellt Mika fest, wie wenig verlässlich Erinnerungen sein können. Am Ende des Tablet-Walk stößt Mika schließlich auf einen langen O-Ton der Mutter: eine letzte Spur, die der Vernichtung durch den Käfer – noch! – nicht anheimgefallen ist.

Das Hörspiel „Ein Käfer, der Erinnerungen frisst“ überzeugt auf unterschiedliche Weise. Zum einen durch den Einfallsreichtum der Autor:innen beim Blick aus der Zukunft zurück in die Jetztzeit. So imaginieren sie Elemente einer durchaus möglichen zukünftigen Realität: z.B. urbane Kühlzonen, die die städtischen Bewohner:innen vor zu großer Hitze schützen sollen. Mika trifft auf Plastikfetischist:innen, die im Pazifischen Ozean auf einer Insel ganz aus Plastik leben. Mika wird durch ein K.I.-Gadget, das ihre Wahrnehmung schärfen soll, vermeintlich personalisierte Werbung eingespielt, wodurch sie ihr tägliches Datenvolumen umsonst bekommt. Dies sind allesamt keine wirklich schönen Aussichten auf die nahe Zukunft, aber durchaus vorstellbare, so dass das Stück unserer Gegenwart im Jahr 2022 nicht gänzlich enthoben wirkt.

Klanglich überzeugt das Stück nicht nur durch den Einsatz der Kunstkopftechnik, sondern durch die detailreiche Gestaltung des wabernden Klangteppichs, der mal für die Gedankenbewegungen von Mika steht, mal die technisierten Fressgeräusche des Käfers eindringlich zu Gehör bringt. Der Einsatz des Kunstkopfes ist auch nicht zuletzt eine logische Konsequenz dessen, dass die Hauptperson sich mit dem AR-Walk durch die Stadt bewegt, womit einerseits die Ausprägung von Räumlichkeit ein Thema des Stückes ist und andererseits mit der klassischen Hörsituation der heutigen Podcast-Generation gespielt wird. Besonders hervorzuheben ist schließlich die überzeugende Weise, in der Bineta Hansen die queere Figur Mika spricht und ihr einen klaren Charakter gibt, der das Stück trägt.

Ein Käfer, der Erinnerungen frisst

Das Hörspiel des Monats wird am 03.03.2023 um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk (DLF) wiederholt.

Die Nominierungen

BR, Martin Heindel: Rückwärts-Hannah
DLF, keine Nominierung
DLF Kultur, Fabian Raith, Sofie Neu: Ein Käfer, der Erinnerungen frisst
HR, Joseph Conrad: Lord Jim
MDR, Thilo Reffert: Für immer wir alle zusammen
NDR, Jon Fosse: So ist das
RB, Wilke Weemann: Landunter
RBB, Lars Werner, Sarah Kilter: Daddy
SR, keine Nominierung
SWR, Yasmina Reza: Serge
WDR, Felix Engstfeld, Nina Meyer: Emilys Remider
ORF, Magda Woitzuck: O Eurydike! Die Liebe höret nimmer auf
SRF, Dominik Bernet: Mord im Outlog

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