Hörspiel des Monats August 2023
V 13 – Chronique judiciaire
von Emmanuel Carrère
Übersetuung: aus dem Französischen von Claudia Hamm
Bearbeitung & Regie: Leonhard Koppelmann
Komposition: zeitblom
Dramaturgie: Manfred Hess
Produktion: SWR 2023
Länge: 89:12
Ursendung: 26.08.2023, 18.20 Uhr
8-teilige Podcast-Fassung: 195:30
Folge 1: Der Erste Prozesstag 24:17; Folge 2: Ein Gespenst 23:31; Folge 3: Überlebende und Hinterbliebene 23:45; Folge 4: Die Angeklagten 22:16; Folge 5: Gendarmen und Geheimdienst 21:12; Folge 6: Dschihad 21:51; Folge 7: Countdown 29:02; Folge 8: Gerechtigkeit 29:36
Die Begründung der Jury
Es ist 21:04 Uhr. Es beginnt: Der erste Prozesstag.
So heißt das erste Kapitel unseres Hörspiel des Monats August.
Der Sound ist sehr gut, sehr sauber. Der Musikeinsatz entwickelt eine ganz eigene Immersivität. Die langjährige Erfahrung im Realisieren von Hörspielmusik des hierbei Verantwortlichen, Komponist und Musiker zeitblom, verwundert nicht. Langsam, aber umso tiefer, entwickelt sich ein Sog aus Tönen. Gleichzeitig: Störungen, immer wieder. Leise, aber in ihrer Tonhöhe mal bedrängende, mal bedrückende und nahezu schmerzhafte lange Soundfrequenzen im Hintergrund.
Mein Mitbewohner fragt mich zu Beginn, ob dieses Piepen, dieses Pfeifen an einer Stelle auch vom Hörspiel sei. Ich bejahe und erzähle, warum ich den Einsatz bisher ziemlich stark finde, und direkt hinterher: ‚Soll ich doch lieber wieder auf Kopfhörer wechseln?‘ – ‚Nein, nein. Lass weiterlaufen.‘ Er verstand, warum ich es gut fand an der Stelle, er habe nur deswegen da gerade wirklich kaum mehr hinhören können. Ich nickte und sagte: Genau! Das gleichnamige Hörspiel nach dem Tatsachenroman V 13 Chronique judiciaire, der jüngsten Buchveröffentlichung des französischen Autoren Emmanuel Carrère (*1957), ist extrem dicht.
Verhandelt werden u.a.: Fragen der Gerechtigkeit und des Rechts. Fragen nach politischer Verantwortung und demokratischen Errungenschaften. Fragen der Ethik und Affektivität von Menschen. Komplexitäten neben Wahllosigkeit. Zig Einzelschicksale von Überlebenden über das Sterben, von Angehörigen über den Verlust. Grauen und Trauer. Inhalte, bei denen es nur menschlich wäre, irgendwann nicht mehr hinhören zu können oder wollen. Eigentlich.
Dem Team hinter der Produktion gelingt es erzählerisch und formal, eine Unmenge von Stimmen, die zum kollektiven Trauma des 13. November 2015 aussagen, über das Davor/das Danach sprechen, so aufzunehmen, dass ich als Zuhörer:in den Eindruck einer kollektiven Erzählung bekomme. Die wirklich herausragende Qualität des Stücks ist, dass dieser Effekt dabei nicht auf Kosten der individuellen Stimmen, der Einzelpersonen mit ihren ganz eigenen, einzigartigen Geschichten geht. Aus diversen Perspektiven auf die Ereignisse jener Nacht schauend, verschiedene Vektoren des Prozesses vermessend, gelangen Carrères einordnende Passagen mit allen Ambivalenzen, und es sind einige brilliante dabei, stets zum richtigen Zeitpunkt und mit einer Bestimmtheit ins Ohr, die fast erleichternd ist, wäre alles davor, alles danach nicht von so immenser Intensivität.
Gegen halb 1 in der Nacht schauen mein Mitbewohner und ich uns an.
Versehentlich gebinge-listened, das ist mir so auch noch nie passiert.
‚Krass.‘ – ‚Ja, krass.‘ – ‚Puh.‘
In den letzten Stunden wurde so einige Male laut Luft ausgestoßen. Was eben passiert, wenn man unmerklich den Atem anhält. Unsere Atmung brach sich Bahn, mehrfach musste sie das an jenem Abend.
Die Dramaturgie des 8-teiligen Werks sorgt für eine extrem hohe Spannung, bleibt dabei aber informativ. So übersichtlich in der Strukturierung wie nur möglich bei komplexem Ausgangsmaterial wie der dokumentarischen Prosa, die zwischen Linearität und Non-Linearität, objektiven Tatsachen und subjektiven Reflektionen changiert, wird hier immens viel Thrill erzeugt. Ich meine nicht den des Voyeurs, des gewöhnlichen Thrillers. Natürlich begleiten wir Carrère als Prozessbeobachter, natürlich war der Prozess ein mediales Spektakel. Dennoch, es ist ein anderer Thrill, den ich hier meine. Eher einer des Reporters, der Re-portage. Wer mag, macht sich jetzt die Mühe die etymologische Herkunft letzteren Wortes zu recherchieren.
Die Entscheidung, eine 90-minütige Hörspielfassung als Einteiler und eine Podcastserie von 8 Folgen aus dem Stoff zu machen, mag erstmal irritieren. Hört man beide Fassungen, wird jedoch klar, dass keine bloße Zusammenfassung vorliegt, die sich unzureichend mit einem vermeintlich Wesentlichen oder Sachlichen bemüht, Carrères Tatsachenroman auf Faktizität einzukochen. Selten habe ich in einer Audioproduktion so deutlich einen Stil, eine Signatur im Schnitt sehen können wie hier. Ich persönlich empfehle Ihnen natürlich stärkstens die dreistündige Serie zu hören, mindestens. Als Serviervorschlag ans Herz legen möchte ich, den Einteiler entweder im Vorhinein (wenn das Spiel mit Leerstellen und Chiffren einen reizt) oder im Nachgang (falls Informationslücken einen zu stark vom bewussten Hörgenuss abhalten), jedenfalls ergänzend zur gehörten Serie zu hören. Mit der Reduktion auf die Literazität und Prosaqualität der Buchvorlage wird bei der kleinen Variante ein künstlerischer Anspruch bewahrt, wie man es sich in Zeiten von (an dieser Stelle nicht weiter zu problematisierten und damit doch auch unfreiwillig beworbenen) Apps wie Blink ist kaum mehr vorstellen kann. Eine große und sehr seltene Leistung. Selten, nicht, weil es nicht möglich ist. Das hat das Team um Leonhard Koppelmann und Manfred Hess ja hiermit bewiesen. Sondern weil es ein hohes Maß an konzentrierten Arbeitsstunden und v.a. Mut zu einer solchen Entscheidung erfordert.
In beiden Fassungen wird sich dem heutzutage leicht gefundenem Publikum der True Crime-Erzählung bewusst abgewandt. V 13 will kein Justizdrama sein, viel zu klar und unaufgeregt klingen lange Passagen des Stücks. Noch genügen sich Regie und Ton damit, den Klang bloßer Berichterstattung zu imitieren, was womöglich die sicherere, risikoärmere Variante gewesen wäre. Carréres eigener Stil, die Buchvorlage, mag da eine entscheidende Rolle gespielt haben. Die Übersetzung, die französische Zeuginnenaussagen zu deutschen Text gewandelt hat (der Intensität der Sätze keinen merklichen Abbruch tuend) sicherlich auch. Dennoch sei an dieser Stelle die Drehbucharbeit und die Sprecherinnenleistung gelobt, die vermag eine geteilte Geschichte zu erzählen und beide Bedeutungen des Teilens darin durchklingen zu lassen: die Teilung im Sinne der Spaltung, Zerrissenheiten, Bruchteile wie auch das Teilen als Gemeinschaftliches, als Mitteilen oder anderssprachig: (to) share.
Eine großartige literarische Übertragungsleistung, die nicht bloß als vertontes Buch zu verstehen ist, sondern in beiden Varianten einen besonderen Mehrwert liefert.
Das Hörspiel des Monats wird am Samstag, den 04.11.2023 um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk (DLF) wiederholt.
Die Nominierungen
BR, Su Turhan: Seelenfeuer (ARD Radio Tatort)
DLF, keine Nominierung
DLF Kultur, willems&kiderlen: In Arbeit
HR, Bertolt Brecht, Helgard Haug: Der kaukasische Kreidekreis
MDR, keine Nominierung
NDR, Liza Cody: Ballader einer vergessenen Toten
RB, Nick Cave: The Sick Bag Song – Das Spucktütenlied
RBB, keine Nominierung
SR, keine Nominierung
SWR, Emmanuel Carrère: V 13 Chronique judiciaire
WDR, Volkan T error: German Paranoia
ORF, Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt
SRF, Evelyn Dörr: Schlangenritual, Untertext. Eine Indianersinfonie.
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