Hörspiel des Jahres 2024
Im Auge des Sturms – Das Kapitol am 6. Januar 2021
von Maxi Obexer
Regie: Gerrit Booms; Regieassistenz: Julia Kiefer
Mit: Victoria Trautmannsdorff, Hans-Gerd Kilbinger, Claudius Steffens, Sabrina Ceesay, Enno Kalisch, Friederike Linke, Glenn Goltz, Mi Hae Lee
Besetzung: Ulrich Korn
Technische Realisation: Werner Jäger, Barbara Göbel
Dramaturgie: Isabel Platthaus
Produktion: WDR 2024
Ursendung: WDR 5, 07.01.2024, Länge: ca. 53‘
Die Begründung der Jury
Das Hörspiel kann alles sein. Denn seine junge Geschichte schreibt ihm keine Tradition und keine geprägte Form vor. Jedes Projekt kann in alle Richtungen gehen, sich geschmeidig an andere Gattungen anlehnen oder nie Gehörtes hervorbringen. Wir haben im 100. Hörspiel-Jubiläumsjahr sinnreich mit Musik unterstützte Radioessays gehört, ein Radiomusical, Filme für die Ohren und vieles mehr. Dieses offene Feld ist ein kostbares Kreativlabor, wie sich eindrücklich zeigte, und wir wünschen dem Hörspiel und seinen „Zaubereien auf den Sendern“ eine reichhaltige und weiterhin überraschende Zukunft.
Wir haben uns für eine Produktion entschieden, die zwischen O-Ton-Reportage, politischem Essay und Krimispannung oszilliert. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir die Wahl auch unter dem Eindruck aktueller politischer Geschehnisse getroffen haben. Der 47. amerikanische Präsident ist mit seiner Amtseinführung im Januar 2025 als erster verurteilter Straftäter im Amt in die Geschichtsbücher eingegangen. Vier Jahre zuvor, im Januar 2021, nahm er bei den Geschehnissen rund um den „Sturm aufs Kapitol“ eine zentrale Rolle ein, als er seine Fans bei einer Kundgebung dazu aufrief, die Pennsylvania Avenue hoch zum Kapitol zu ziehen, um gegen den vermeintlichen Betrug nach seiner verlorenen Wahl zu demonstrieren.
Schrecken, Morddrohungen und Chaos sind die Folge, fünf Menschen sterben. Es tagt an diesem Tag der Kongress, um den letzten Schritt vor der Ernennung des neuen US-Präsidenten Joe Biden zu vollziehen: die Anerkennung der Wahlergebnisse, welche zuvor Gegenstand 50 verlorener Prozesse des Trump-Lagers waren. „Wir werden nie aufgeben“, sagt Donald Trump zu den Anhänger*innen, „wir werden nie eine Wahlniederlage anerkennen“.
Maxi Obexer hat die Geschehnisse als kinoreifes Politevent erkannt und daraus ein dokumentarisches Stück mit Pathos und Drive geformt. Es führt uns die Funktionsweisen und politischen Denkmuster eines Systems vor Augen, das sich anfällig für Bruchstellen zeigt. Sorgfältig hat sie die dokumentierten O-Töne der US-Abgeordneten zusammengesetzt, übersetzt und eingeordnet und fasst zusammen, wie sich die Stunden im Inneren des Machtzentrums dieser großen und mächtigen Demokratie dargestellt haben.
Entstanden ist ein Hörspiel, das, trotz seiner Bezugnahme auf ein vergangenes Ereignis ins Heute wirkt, indem es eindrücklich zeigt, in welch kurzer Zeit ein so wichtiges System von „funktionierend“ zu „dysfunktional“ kippen kann und wie Ordnung, Gesetze und Staatsgewalt von einem Moment zum nächsten in Chaos und Gewalt versinken. Das Ruder herumreißen können die Mitglieder des Kongresses, indem sie trotz aller Widerstände – von innen, durch Einsprüche gegen die Wahlergebnisse, von außen, durch randalierende Demonstranten – miteinander im Gespräch bleiben. Das Prozedere, das für die Ernennung des neuen Präsidenten nötig ist, muss absolviert werden und so holen die Politiker*innen die Demokratie zurück in den Saal, indem sie stoisch und bis mitten in die Nacht hinein „zurück an die Arbeit gehen“. Das alles lebt natürlich auch vom amerikanischen Pathos der Redebeiträge, der Leidenschaft, mit der hier Demokraten und Republikaner um ihr ganz eigenes Verständnis von Glanz und Vaterland streiten.
Dieses Hörspiel demonstriert die gefährliche Macht rhetorischer Manipulation und die Verantwortung politischer Führer für die Folgen ihrer Worte. Der Sturm auf das Kapitol verdeutlicht die tiefe Spaltung einer Gesellschaft und die Fragilität demokratischer Prozesse, selbst in etablierten Demokratien. Maxi Obexer hat geschafft, nicht nur die historische Vorlage als dankbare Dramaturgie zu erkennen und zu nutzen, sondern sie so zusammenzustellen, dass die Essenz der Ereignisse zugespitzt, auf den Punkt gebracht und greifbar wird. Nicht nur das empörende Skandalon wird erlebbar, sondern auch die Kraft der vernünftigen Verständigung in demokratischen Prozessen. Und diese Lektion – so scheint uns – haben wir in der kommenden Zeit bitter nötig. Deshalb wird „Im Auge des Sturms“ Hörspiel des Jahres 2025.
Im Auge des Sturms – Das Kapitol am 6. Januar 2021
Die dreiköpfige Jury bestand aus Clara Gauthey (Kulturredakteurin beim Bieler Tagblatt), Claude Pierre Salmony (Hörspielredakteur, -dramaturg, -regisseur) und Maria Ursprung (Dramatikerin, Regisseurin, Co-Leiterin des Theater Marie).
Preisverleihung
Am Freitag 21. Februar 2025 findet die Preisverleihung zum Hörspiel des Jahres im Kino Rex in Bern statt. Die Auszeichnung der DADK wird im Rahmen des SONOHR Festivals verliehen.
Ort: Kino Rex, Schwanengasse 9, CH-3011 Bern
Termin: Freitag, 21.02.2025, 19.30 Uhr Festivalbeginn SONOHR,
20.30 Uhr Apéro,
21-22.15 Uhr Preisverleihung Hörspiel des Jahres 2024.
Das Hörspiel wird in Gänze zu hören sein.
Die Hörspiele des Monats 2024:
Januar: Maxi Obexer: Im Auge des Sturms – Das Kapitol am 6. Januar 2021 (WDR)
Februar:Erwin Koch: Fünf beste Tage (SRF)
März: Wilhelm Genazino: Nie! Nie! Nie! (SWR)
April: Alexander Kluge: Der Stein in der Tasche (BR)
Mai: Luise Voigt: Raumzeit (HR/DLF Kultur)
Juni: Tucké Royale: Mit Dolores habt ihr nicht gerechnet (RBB)
Juli: Leonie Lorena Wyss: Blaupause (NDR)
August: Ephraim Kishon und Friedrich Torberg: Mein Sohn, Nephew und Bács! (ORF)
September: Jana Scheerer: Die Rassistin (MDR)
Oktober: Maxim Biller: Kein König in Israel (SWR)
November: Gesche Piening: Die Könige spielen die anderen (DLF Kultur)
Dezember: Gesche Piening: Sei unser sicher sicher von
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