Herabgestimmte Tonalität
Sibylle Berg: Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden
MDR Kultur, Mo 25.01.21, 22.00 bis 22.55 Uhr
Es gilt als eher unelegant, einen Satz mit einem „Und“ zu beginnen. Insbesondere wenn der Bezug zum Vorhergehenden nicht klar ist oder es gar kein Vorhergehendes gibt. Andererseits eröffnet man so einen Raum der Erwartungen und Assoziationen. Der Titel von Sibylle Bergs neuem Hörspiel lautet: „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“. Das Stück schließt eine Tetralogie ab, die schon mit einem „Und“ begonnen hatte: „Und jetzt: Die Welt! Oder: Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen“. Für die Hörspielfassung dieses ersten Teils der Tetralogie wurden die Autorin Sibylle Berg und die Protagonistin des Stücks, die Schauspielerin Marina Frenk, 2016 zu gleichen Teilen mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet (vgl. MK-Artikel).
Die beiden mittleren Stücke „Und dann kam Mirna“ und „Nach uns das All“ (warum eigentlich nicht „Und nach uns das All“?) wurden nicht als Hörspiele inszeniert. Alle vier Teile, die man sich als von Generation zu Generation rotierenden Zyklus vorstellen kann, sind unter der Regie von Sebastian Nübling am Berliner Maxim-Gorki-Theater mit einem häufig chorisch agierenden vierköpfigen Frauen-Ensemble in wechselnder Besetzung uraufgeführt worden. In einem der Stücke durfte auch ein Männerquartett mitspielen.
Anders als Stefan Kanis, der die Hörfassung von „Und jetzt: Die Welt!“ als Solo-Performance mit Coverversionen vorauseilenden Leidens inszeniert hatte (Kritik hier), setzt Hörspielregisseurin Beate Andres in ihrer Inszenierung des vierten Teils, der wie der erste im Auftrag des MDR entstand, auf einen rein instrumentalen, nahezu filmmusikalischen Soundtrack von Komponist Max Knoth und eine Textfassung für vier Schauspielerinnen (Bettina Stucky, Gabriela Maria Schmeide, Ursina Lardi, Sina Martens). Die Tonalität des Hörstücks ist gegenüber dem typischen Sibylle-Berg-Sound auf den Theaterbühnen deutlich herabgestimmt.
Spielt der Titel des ersten Teils der Tetralogie mit den ambivalenten Assoziationen von allgemeinem Aufbruch und einem Nazi-Lied, so klingt im vierten Teil „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“ ein Vanitas-Motiv an. Nur dass eine der Protagonistinnen, die in ihrem Krankenhausbett von futuristisch durchs Stereobild pfeifenden Apparaten beatmet wird, keinerlei Hoffnung auf eine jenseitige Transzendenz hegt.
Das 55-minütige Hörspiel beginnt mit einem zweistrophigen Gedicht, das mit diesen beiden Zeilen beginnt: „Da sind Sie wohl zu spät gekommen: / Das Bett ist leer, die Mutter tot“. Der Blick der Mutter geht zurück. Ihre Todesursache: ein Selbstmordattentat in einem gut gefüllten Versammlungsraum libertärer Vordenker. Dabei ist sie sich der Lächerlichkeit ihrer Todesaktion, die maximal für ein, zwei Tage die Schlagzeilen beherrschen wird, durchaus bewusst. Denn anders als die Frau mit dem roten Koffer im Live-Hörspiel „Bombsong, untitled“ (HR) von Thea Dorn und Ulrike Haage, das unmittelbar vor den Anschlägen des 11. Septembers 2001 entstanden war (vgl. FK-Heft Nr. 43/01), glauben Sibylle Bergs Figuren Gemma, Lina, Minna und die namenlose Erzählerin nicht einmal mehr an die symbolische Kraft eines Zerstörungsaktes. Auch sie können sich eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorstellen, wie es der Kulturtheoretiker Mark Fisher in Anlehnung an Slavoj Žižek in einer Flugschrift kurz von seinem Suizid formuliert hat.
Da ist die Tochter, die einen Algorithmus programmiert hat, der ihre Mutter als Schmarotzer erkennt und der Krankenkasse mitteilt, deren Alzheimer-Behandlung einzustellen. Obwohl die Tochter für ihren Arbeitgeber etwas Kostendämpfendes erfunden hat, wird sie entlassen, weil sie eine Frau um die 50 und damit nicht mehr geeignet ist, den Markt zu beleben. Da ist aber auch die Frau, die ihre Festanstellung als Kapitulation vor dem System ansieht. Alle leiden auf ihre Art an der Welt und sind auf verschiedene Weise unglücklich.
All die Sprachschablonen und Lebenslügen der seit dem ersten Teil der Tetralogie um ungefähr 30 Jahre gealterten Figuren bekommen ihr Fett weg. Sibylle Berg braucht nur wenige Worte, um ganze Ideologiegebäude zusammenfallen zu lassen wie wacklige Bretterbuden, die sie eigentlich sind. Doch die Autorin denunziert ihre Figuren nicht und sie missbraucht sie auch nicht als Pappkameradinnen oder Pointenlieferantinnen. Sogar einen Funken Hoffnung gibt eine Figur ihrem jungen Ich mit: „Du wirst begreifen, was sie gemeint haben, als sie dich verspotteten: Sie hatten nur Angst, dass es sonst sie träfe. […] Die Gequälten, die Ausgelachten, die Gedissten und Unmöglichen werden gewappnet sein für das, was kommt, und sich nicht darauf verlassen, dass ihnen alles geschenkt wird.“
Doch dann kommt schon der Epilog, jenes Gedicht vom Anfang über die tote Mutter, die der Welt ebenso gleichgültig ist wie jede andere Tote – „als wäre sie nie dagewesen“. Das ist unendlich traurig und es ist schön, einen Sibylle-Berg-Text nicht auf Speed zu hören, sondern mit all seinen melancholischen Untertönen, wie es Beate Andres und ihrem Ensemble hier gelungen ist.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 3-4/2021
Schreibe einen Kommentar