Gleichgewichtszustände

Dunja Arnaszus: Wir fallen nicht

Deutschlandfunk, Di 29.10.2013, 20.10 bis 21.00 Uhr

„Fallen“, sagt Solveigs Lehrerin Eileen, „Fallen ist keine Option.“ Der Satz formuliert den Ausschluss des Scheiterns – deshalb wird der Umgang damit auch gar nicht erst eingeübt. Natürlich ist das jener Motivationssprech, dessen sich Unternehmensberater, militärische Vorgesetzte oder Coaches aller Art befleißigen, wenn es gilt, die Konzentration im Augenblick zu halten und Konsequenzen auszublenden. Für die Situation, in der sich die Ich-Erzählerin Solveig befindet, ist dieser Hinweis nicht ganz unbegründet, sitzt sie doch auf dem Trapez in einer Zirkusschule im südenglischen Bristol und soll den Half-Angel-Drop lernen.

Der technische Ablauf der Figur wird in Dunja Arnaszus’ 50-minütigem Hörspiel „Wir fallen nicht“ mehrfach detailreich beschrieben, ohne dass man sich davon aber im Gewirr der vielen Achsen und Gelenke, um die sich die unterschiedlichen Extremitäten zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu drehen haben, eine optische Vorstellung machen könnte. Jedenfalls tut es schon weh, wenn die Figur korrekt ausgeführt wird und die Knöchelgelenke am Seil entlangschubbern. Aber es geht noch schlimmer: eine weitere Figur heißt „Skinning the Cat“ („Die Häutung der Katze“).

Die autobiografisch grundierte Geschichte von Solveig beginnt damit, dass sie in Bristol angekommen ist und dort erst mal einen Schlafplatz braucht. Die Hilfsorganisation „Less Homeless“ vermittelt ihr ein Zimmer in einer WG mit Izzy, Gary, Norman und einem Hund. Auf dem hektischen Weg zum Bus bekommt sie schon die erste Liebeserklärung von Mitbewohner Norman (Mark Jackson) – da ist das Hörspiel gerade einmal vier Minuten alt, aber Solveig (Katrin Wichmann) interessiert sich mehr für einen One-Night-Stand mit Ian (Jonas Baeck) aus ihrer Zirkusklasse. Der steht jedoch auf April (Lilja Klee), die „in ihrer Kindheit mit so viel Glück gefüttert worden ist, dass sie quasi nichts wiegt“, und die mit Ian „sehr gut über Sex kommunizieren“ kann. Doch so richtig neidisch möchte Solveig auch nicht sein auf die Schnalle mit der „stiff upper lip“, auf diese junge Frau, die vom Schicksal der Anderen, der vor der Pleite stehenden Schule und überhaupt von allem, was nicht direkt sie selbst betrifft, gänzlich unbeeindruckt bleibt.

Klar, dass das Fallen, das keine Option ist, nur umso notwendiger zur Realität werden muss – natürlich bei der Aufführung, die die künftige Finanzierung der Schule sichern soll. Doch es ist nicht Solveig, die fällt. Mittels eines Fesselballons und ein wenig Gewaltanwendung geht die weitere Förderung der Schule dann doch noch in Ordnung. Das spielfreudige junge Ensemble hat in diesem Stück unter der Regie der Autorin noch nicht den typischen Hörspielsprecherton drauf, sondern wirkt frisch und vital. Dunja Arnaszus’ Geschichte vom Erwachsenwerden pendelt zwischen verschiedenen Gleichgewichtszuständen, ohne die Balance zu verlieren. Selbst die Rückbetrachtung zwanzig Jahre später, in die sich die Figuren hineinversetzen und von der die Ich-Erzählerin selbst erzählt, kommt ohne jede Larmoyanz aus, wenn auch nicht ohne ein wenig Wehmut.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 45/2013

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