Empathie aus forensischer Distanz
Jakob Weingartner: Königreich des Schweigens – Stimmen aus syrischen Gefängnissen. Feature
WDR 5, So 08.12.19 11.05 bis 12.00 Uhr / Ö1 (ORF) • Sa 04.01.20 9.05 bis 10.00 Uhr /
Deutschlandfunk • Di 07.01.20 19.15 bis 20.00 Uhr (gekürzte Fassung)
Genauso wie es Bilder gibt, die man besser nicht sehen sollte, gibt es Töne, die man sich ersparen möchte. Zumal, wenn man aufgefordert ist, sich in einer 3D-Audiofassung für Kopfhörer in Situationen zu begeben, in denen man nicht sein will. Außerdem kann man denen, die sie erlebt haben, ohnehin nicht dorthin folgen. In Jakob Weingartners 55-minütigem Radiofeature „Königreich des Schweigens“ geht es um das berüchtigte Foltergefängnis Saydnaya, gelegen in den Bergen Syrien, unweit der Hauptstadt Damaskus.
Mehr als 20.000 Menschen sollen seit 2011 laut der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ an diesem Ort des Schreckens zu Tode gefoltert und exekutiert worden sein. An einem Ort, an dem nicht gesprochen werden darf, dessen Zellenwände metallverkleidet sind und an dem die Gefangenen in Dunkelheit gehalten werden. Während laut dem Naturphilosophen Lorenz Oken das Auge den Menschen in die Welt hinausführt, führt das Ohr die Welt in den Menschen hinein. Was aber, wenn diese Welt eine Welt des Schreckens und der Qual ist? Wenn die Schritte der Wächter und das Geräusch einer Kette, an deren Ende ein Haken „Fleischstücke aus dem Körper des Gefolterten“ reißt, eine akustische Geografie bilden, die von den Metallwänden verstärkt wird?
Aus dem Militärgefängnis Saydnaya gibt es keine O-Töne. Aber auch in Deutschland gibt es Orte, an denen gefoltert worden ist. Jakob Weingartner hat zusammen mit dem Komponisten und Musiker Bartosz Bludau Aufnahmen im sogenannten „U-Boot“, dem ältesten unterirdischen Trakt des Stasi-Gefängnisses in Berlin-Hohenschönhausen, gemacht und dort auch ein Interview mit einem Syrer geführt, der das Foltergefängnis überlebt hat. Der Mann möchte anonym bleiben und hat und stattdessen den Namen eines ermordeten Mitgefangenen angenommen hat, Amjad.
Gleich zu Beginn der Aufzeichnungen platzt eine Besuchergruppe in das Gespräch und so wird deutlich gemacht, dass es hier nicht um Immersion geht, sondern um eine akustische Rekonstruktion von Saydnaya – ähnlich wie sie die Forschungsgruppe „Forensic Architecture“ an der Londoner Goldsmiths Universität im Auftrag von Amnesty International erstellt hat. Dass, wie in Hohenschönhausen, aus dem Gefängnis eines totalitären Regimes eine Gedenkstätte und ein Museum werden kann, ist auch für die ehemaligen Insassen anderer Folterknäste ein Moment der Hoffnung.
„Dem Regime geht es darum, durch die Traumatisierung einiger alle Syrer zu konditionieren“, sagt der ehemalige Gefängnisinsasse und Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh und fährt fort: „Alle Sicherheitsbehörden sind Fabriken des Assad-Systems, in denen dieselbe Essenz produziert wird: Angst.“ Die Traumatisierung einer ganzen Gesellschaft und die Errichtung einer „Diktatur der Ewigkeit“ ist das Ziel. Und wenn man dazu extremistische Dschihadisten instrumentalisieren kann, tut man auch das.
Dass die brutalen Verhältnisse nicht erst seit den Aufständen gegen das Assad-Regime herrschen, kann man in dem teilweise autobiografischen Roman „Das Schneckenhaus“ entnehmen, den der Syrer Mustafa Khalifa geschrieben hat und der bereits 2007 erschien, bevor er dann 2019 von Larissa Bender ins Deutsche übersetzt wurde. Bernhard Schütz liest in dem Feature Ausschnitte aus dem Roman und fügt so den dokumentarischen Interviewtönen eine historische und literarische Ebene hinzu. Florian Lukas, Robert Stadlober, Oliver Stritzel und Philipp Lind geben den Opfern und Ohrenzeugen unter der eindrücklichen Regie von Autor Jakob Weingartner mit dem richtigen Maß an Empathie ihre deutschen Stimmen – ohne sich von den schrecklichen Erfahrungen überwältigen zu lassen oder zu kühl zu reportieren.
Die Überlebenden sind an Körper und Seele versehrt, gerade wenn sie als „Funktionshäftlinge“ Teil des syrischen Folterregimes geworden sind, also Opfer und Täter zugleich. „In meinem Innern ist ein Monster gewachsen“, sagt einer von ihnen, der seine Kinder exzessiv schlägt, obwohl er das nicht will. Folgen einer Folter, die nie endet, auch nicht, wenn man Saydnaya entkommen ist. Dem „Königreich des Schweigens“ – eine Metapher, die der Demokratie-Aktivist Riad al-Turk für ganz Syrien geprägt hat – kann man nur „ein Imperium der Hoffnung“ entgegensetzen, wie es Amjad gegen Ende des Features sagt.
Das federführend vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) produzierte Stück, das im Programm WDR 5 (dort in Stereo und de 3D-Kopfhörerversion nachhörbar) bereits am 8. Dezember, zum bevorstehenden Tag der Menschenrechte (10. Dezember), urgesendet wurde, ist in Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk (DLF) und dem Österreichischen Rundfunk (ORF) entstanden. Es wurde nun im Januar im ORF-Programm Ö1 und in einer im linearen Programm um zehn Minuten gekürzten Fassung im Deutschlandfunk ausgestrahlt. Die Produktion zeigt, wie ein künstlerisches Feature aus „forensischer Distanz“ (Weingartner) Empathie zu erzeugen vermag und Höreindrücke schafft, die die Schrecken des Realen fühlbar machen, ohne sich einen Realismus anzumaßen, der nie erreicht werden kann. In seinem Stück „Königreich des Schweigens“ widersteht Jakob Weingartner all den Versuchungen und Fallstricken, die ein im Kern so akustisches Thema bereithält und er hat damit das Unerträgliche, was der Mensch dem Menschen antut, erfahrbar gemacht.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 2/2020
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