Eine Suada unter der Schwerkraft des Realen
Wenn man den Donner hört, der das Hörspiel „Die Politiker“ von Wolfram Lotz einleitet, ist der Blitz längst eingeschlagen. In seinem Sprechgedicht in der Tradition der frühen Hörspiele von Peter Handke arbeitet Lotz mit einer Suada der Zuschreibungen an die politische Klasse, die hochpräzise lyrische Miniaturen enthält und für die Regisseur Franz-Xaver Mayr und Komponist Matija Schellander eine angemessene Klangsprache gefunden haben.
Entstanden ist Wolfram Lotz’ Sprechtext „Die Politiker“ 2019 – also vor dem anti-institutionellen Furor der sogenannten Querdenker. Seitdem ist das Stück auf diversen Theaterbühnen von Wien bis Hamburg und von Saarbrücken bis Rostock inszeniert worden. Doch Wolfram Lotz ist nicht nur ein vielfach ausgezeichneter Theaterautor, sondern auch als Hörspielautor erfolgreich. „Das Ende von Iflingen“ (SWR 2019) lief auf den ARD-Hörspieltagen ebenso wie „Die lächerliche Finsternis“ (SWR 2015), das auch zu den drei Finalisten des Hörspielpreises der Kriegsblinden gehörte. Letztere war ursprünglich als Hörspiel konzipiert, erlebte seine Uraufführung allerdings im Theater, bevor es SWR-Dramaturgin Andrea Oetzmann, die auf „Die Politiker“ redaktionell betreut hat, ins Radio brachte.
Die 47-minütige Hörspielfassung (SWR 2, 13. März, 18.20 Uhr) des Sprechtextes hat im Gegensatz zu Lotz’ anderen Hörspielen nur wenig Erzählerisches. Er funktioniert vielmehr wie die frühen Hörspiel-Sprechstücke von Peter Handke vom Ende der 1960 Jahre wie „Selbstbezichtigung“, „Die Weissagung“, „Kaspar“ oder natürlich der Theatertext „Publikumsbeschimpfung“. Auf acht Sprecherinnen und Sprecher verteilt (Dorothee Hartinger, Daniel Hoevels, Kate Strong, Linde Prelog, Johanna Sophia Baader, Yara Bou Nassar, Tino Hillebrand, William Cooper) entwickelt Lotz’ Text einen spezifischen Sog, der zum einen auf Metrik, Rhythmik und Reim basiert zum anderen auf der Geschwindigkeit mit der „Die Politiker Die Politiker Die Politiker“ dreifach beschworen werden.
Für dieses Formel braucht es nicht einmal eine Sekunde und so werden die Explosionslaute (p, t, k) selbst zu rhythmischen Elementen während die Vokale (o, i, e) melodietragend werden. Der Wiener Komponist Matija Schellander, der die Sprachaufnahmen stellenweise behutsam moduliert hat, reagiert mit seinem elektronischen Instrumentarium auf die sprachlichen Strukturen indem er sie aufnimmt oder sich ihnen entgegenstellt.
Die Suada von Wolfram Lotz operiert mit Zuschreibungen, die unter dem Reimzwang, den Lotz bisweilen nachgibt, ihr komisches Potenzial entfalten: „Die Politiker konsolidieren die Sozialsysteme / und benutzen für die Hände Creme“. Zuschreibungen, die aber auch todernst sein können: „Die Politiker die Politiker sind der Wind / Die Politiker sind der Wind in den Bäumen / Die Politiker sind der Wind in den Bäumen / die wieder stehen auf den Hügeln von Verdun / Die Politiker sind der Nebel / der am Morgen einfällt über dem Gelände / von Buchenwald.“
Das Holocaust-Motiv wird am Ende des Hörspiels noch einmal wiederaufgenommen: „Die Politiker gehen von Haus zu Haus / Deine bildschöne Tochter Marie / Deine bildschöne Tochter Marie / Die Politiker öffnen die Särge / und holen heraus: / Eine Zahnbürste / ein Smartphone S 7 / und eine Stange Lauch.“ Das ist mit den Anklängen an Celans Todesfuge einigermaßen frivol gereimt und verweist doch darauf, dass auch heutige Politikergeneration ihre Leichen im Keller produzieren. Unter der sprachlich konstruierten Oberfläche befinden sich Abgründe, die von der Schwerkraft des Realen erzeugt werden wie Dellen im Raumzeit-Kontinuum.
Den Politikern steht ein lyrisches Ich gegenüber, das mit dem Vornamen des Autor identifiziert wird: „Die Politiker fragen: Wolfram / wie oft / rufst du deine Mutter an?“ oder „Ach Wolfram, hör doch endlich mit dem Sozialneid auf / Hör doch mit dem Sozialneid auf / Und mit dem sozialen Leid auch“. So sieht die Verantwortungsverschiebung von den Politikern zu den Bürgen en miniature aus.
Theaterregisseur Franz-Xaver Mayr hat mit „Die Politiker“ sein erstes Hörspiel inszeniert und mit der Komposition von Matija Schellander ist daraus der Nachhall eines Blitzes geworden, der schon 2019 eingeschlagen sein muss, als Lotz den Text verfasste und dessen Donner sich in dumpfer Politik- und Politikerverachtung während der Pandemie realisiert hat.
Jochen Meißner – KNA, 20.03.2022
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