Ein Wort zu viel
Liquid Penguin Ensemble: Sola, Sulan, Seul. Wörter reisen
SR 2 Kulturradio, So 27.08.2017, 17.04 bis 18.10 Uhr
Das Hörspiel des Saarländischen Rundfunks (SR) hat eine große Tradition und mit dem Liquid Penguin Ensemble ist eines der gegenwärtig interessantesten Duos immer wieder für den Hörfunk des Senders tätig. Jetzt haben Katharina Bihler (Text) und Stefan Scheib (Musik), die das Ensemble bilden, mit „Sola, Sulan, Seul. Wörter reisen“ ein neues Stück vorgelegt; es handelt sich diesmal um eine Koproduktion des Saarländischen Rundfunks (federführend) mit Radio Bremen und dem Südwestrundfunk (SWR).
In dem 66-minütigen Hörspiel kreisen Bihler und Scheib um die Kernbereiche ihres bisherigen Schaffens: um ihre Leidenschaft für die Wörter und deren Klang, der sie in ihrer Kurzhörspiel-Reihe „Les Mots chéries / Wörter von Wert“ nachgegangen sind, um das Zeitalter des Barocks, das sie in „Ickelsamers Alphabet – Dictionarium der zierlichen Wörter“ (vgl. FK-Heft Nr. 49/14) behandelt haben, und um den paneuropäischen Gedanken, dem sie in „Radio Elysée – Geschichte und Zukunft zweier Raumfahrernationen“ (vgl. FK-Heft Nr. 3/13) gefolgt sind. All das kommt nun in „Sola, Sulan, Seul. Wörter reisen“ in einer Geschichte zusammen, die im sogenannten Übersetzerturm neben dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg spielt. Das Gebäude umfasst 24 Stockwerke, für jede Amtssprache in der EU eines.
Ausgangspunkt ist die Recherche von Katharina Bihler – die nicht nur Texterin, sondern auch Sprecherin der Liquid-Penguin-Hörspiele ist – nach einem unbekannten König, der unter anderem von der EU die Anerkennung seines Reichs gefordert hat. Deshalb hat er vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) sein Zelt aufgeschlagen. Er will als Einstand der EU sein Idiom als 25. Amtssprache andienen und dazu seinen Wortschatz in einer goldenen Kassette übergeben. In einer Parallelhandlung gerät Katharina Bihler in eine Konferenz von Übersetzern, die als Sonderauftrag die eigentlich stumme Europahymne „Freude schöner Götterfunken“ mit einem neuen paneuropäischen Text versehen sollen. Denn bei offiziellen Anlässen gibt es immer wieder unschöne Versuche, sie mitzusingen. Auf einer dritten Ebene geht es schließlich um den Vorgang des Übersetzens selbst.
Wie man heilige Bücher übersetzt, ist schon seit dem frühen 8. Jahrhundert festgelegt, nämlich indem man die Wörter einzeln verpackt und in ihrer genauen Reihenfolge von der lateinischen, griechischen oder hebräischen Seite ans Ufer der eigenen Sprache über-setzt: „nicht unter vollen Segeln, nur bei ruhigem Wetter, mit gleichmäßigen Ruderschlägen und erschütterungsfrei“. Darum scherte sich ein Augustinermönch des frühen 16. Jahrhunderts wenig, als er die Bibel ins „Straßendeutsch“ übersetzte und beispielsweise aus „Ex abundantia cordis os loquitur“ statt „Aus dem Überfluss des Herzens redet der Mund“ das Bonmot „Wes das Herz voll ist, des Mund geht über“ machte.
Theologisch brisant wurde es allerdings bei der Übersetzung des Römerbriefs in Kapitel 3 bei Vers 28, wo ein Augustiner-Mönch namens Martin Luther formulierte, „dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werkes, allein durch den Glauben.“ Die papistischen „Eselsköpf und Rotzlöffel“ (O-Ton Luther) hätten beim Nachzählen der Wörter festgestellt, das da eines überzählig sei, nämlich das Wort „allein“, denn „sola“ komme im lateinischen Urtext nicht vor. Ohne diese protestantische Vereindeutigung des Sachverhalts steht die Tür für den Ablasshandel offen, wenn der Mensch nicht allein mit seinem Herzen vor Gottes Antlitz steht, sondern auch mit seinem Geldbeutel. Über Luther hat das Wort „allein“ in diesem Zusammenhang auch in die finnische Bibelübersetzung gefunden, dort heißt es „sulan“.
Andere Wörter haben sich über fast 5000 Jahre gehalten, ohne ihre Bedeutung zu verändern, wie die Bezeichnung für den Ingwer, die aus dem Alt-Tamilischen stammt und rund um die Erde ähnlich klingt. Mit dem Ingwer musste sich auch der Europäische Gerichtshof beschäftigen, weil, durch Differenzen in den Übersetzungen, nicht eindeutig war, ob er nach Geschmack oder Geruch zu verzollen war. Duft ist teurer als Geschmack. Und was bedeutet das Wort „Aroma“, welches sich in die deutsche Übersetzung der entsprechenden Regelungen eingeschlichen hat?
Weil wir dem Liquid Penguin Ensemble erst einmal sowieso alles glauben, stimmt es dann wohl auch, dass sich im Keller des Luxemburger Übersetzerturms im Archiv eine Datenbank mit Seufzern befindet. Der Seufzer, heißt es im Hörspiel, geht auf einen ur-indoeuropäischen Laut zurück, den ein barfüßiger Mensch vor 10.000 Jahren an der Permafrostgrenze ausgestoßen habe, als er spürte, wie der Boden unter ihm weicher wurde.
Das ist dann auch der Ausgangspunkt für den letzten Vorschlag der Übersetzer an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und die Europäische Kommission bezüglich der stimmlichen Ausgestaltung der EU-Hymne. Denn vielleicht erweisen sich wie im ersten Vorschlag die gesammelten Wörter für „Freude“ („joy“, „joie“, „rados“ etc.), permutativ durch alle Sprachen hin- und herübersetzt und dann silbenweise montiert und ausschließlich auf die Nebenstimmen der Beethovenschen Komposition verteilt, strukturell als zu komplex. Auch der zweite Vorschlag, ohne Wörter den Sprachmelodien und -rhythmen Rechnung zu tragen, ist so vielleicht auch nicht praktikabel. Als dritten und letzten Vorschlag formulieren die Übersetzer: „Man konzentriere sich auf den Gedanken, den man momentan bezüglich Europa hat und lässt dann mit diesem Gedanken im Sinn die Luft an den Stimmbändern vorbeistreifen.“ Somit erleichtere man sich seufzend von den kummervollen oder begeisterten Gedanken, die man an Europa hat. Das könne man eigentlich vor jeder Sitzung machen.
Was bleibt angesichts solch überbordender sprachlicher Vielfalt noch für die Musikspur übrig? Erstaunlich viel. Stefan Scheibs Komposition reagiert sensibel auf das Sprachmaterial und klingt stellenweise wie das Klirren der Fahnen im Winde. Und auch der König, von dessen Zeltplatz vor dem Europäischen Gerichtshof nur noch die vertrocknete Grasnarbe zeugt, ist mit seinem Sprachschatz in der Polyphonie Europas aufgegangen.
(Bei SWR 2 wurde das neue Stück des Liquid Penguin Ensembles am 17. September um 18.20 Uhr ausgestrahlt; der dritte koproduzierende Radio Bremen sendet „Sola, Sulan, Seul. Wörter reisen“ am 5. und 6. November 2017.)
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 18/2017
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