Ein Dokument durchgearbeiteter Unfertigkeit
Volker Braun: Werktage
MDR Kultur, Mo, 6. und 13.05.2024 22:00 bis 23.05 Uhr
Am 7. Mai ist der Dramatiker Volker Braun 85 Jahre alt geworden. Der MDR widmet ihm eine zweiteilige Hörspielfassung seines Arbeitsjournals „Werktage“ aus den Jahren 1977 bis 2008 und ein Making-of. Kann das gutgehen?
1990 veröffentlichte der DDR-Dramatiker, -Romancier und -Lyriker Volker Braun das vieldiskutierte Gedicht „Das Eigentum“. Ein fulminanter Zwölfzeiler über sein Land, das in den Westen gegangen war: „Ich selber habe ihm den Tritt versetzt./Es wirft sich weg und seine magre Zierde./Dem Winter folgt der Sommer der Begierde./Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst./Und unverständlich wird mein ganzer Text.“
Braun ahnte, dass man die Sprache, der man sich in der DDR bedienen musste, um sie über die Hürden der Zensur zu bringen, die damals „Druckgenehmigung“ hieß, bald nicht mehr verstehen würde. Zumindest nicht mehr die Bedingungen ihrer Notwendigkeit. Denn Kulturkämpfe wurden damals noch im Nahkampf ausgetragen, beispielsweise mit Höpcke und Hager. Nachnamen des stellvertretenden Kulturministers Klaus Höpcke und des „Chefideologen“ der SED, Kurt Hager, die in Volker Brauns Arbeitsjournal „Werktage“ oft vorkommen. „Keine Gestalt und Begebenheit ist erfunden, Abweichungen von real existierenden Personen sind Zufall“, schreibt Braun.
Kritisch-loyaler Umgang mit der Vorlage
Die Literaturwissenschaftlerin Kristin Schulz hat aus den beiden insgesamt 2000 Seiten umfassenden „Werktage“-Bänden im Auftrag des Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) in Koproduktion mit dem RBB und Deutschlandfunk Kultur eine zweiteilige Radiofassung gemacht (Teil 1, Teil 2 zum nachhören). Ulrich Lampen hat sie mit den Stimmen von Sylvester Groth, Corinna Harfouch, Julia Gräfner und Christoph Gawenda inszeniert. Und mit der Stimme des 85-jährigen Volker Braun selbst – einer Stimme die immer noch eine sächsische Färbung hat, obwohl der am 7. Mai 1939 in Dresden geborene Schriftsteller seit langem in Berlin lebt. Eine Stimme auch, der man in der Artikulation das Bemühen anhört, möglichst präzise sein zu wollen, um nicht missverstanden zu werden. Eine Stimme, die nachdrücklich auf ihren Text pocht und dadurch den Druck weitergibt, der auf sie ausgeübt wurde.
Die Komposition von Steffen Schleiermacher, mit bisweilen gezupfter Viola und Vibrafon, reagiert auf Brauns Texte wie auf dessen Stimme – ein harter Anschlag mit abgedämpftem Nachhall. Ein kritisch-loyaler Umgang mit der Vorlage, ähnlich wie man in den Nachwende-Diskussionen der 1990er Jahre eine bestimmte Spielart von DDR-Literatur im Umgang mit ihrem Staat charakterisierte.
Es sind nur wenige Texte, die Braun in den insgesamt 130 Minuten der zweiteiligen Radiofassung spricht. Konzentrierter kann man ihn in dem 24-minütige Making-of „Ein Pool von Empfindungen und Merkwürdigkeiten – Volker Brauns Werktage als Hörspiel“ hören, das der MDR am 7. Mai um 22 Uhr gesendet hat und das als Vor- oder Nachwort zum Hörspiel enorm hilfreich ist.
Der Mensch hinter dem Text
Denn die „Werktage“ sind nicht als dokumentarisches Feature zu hören. Es wird nichts erklärt, was nicht im Text steht. Nicht einmal Vornamen und Funktionen – siehe Höpcke und Hager – werden ergänzt. Das klingt streckenweise ein bisschen spröde und ist nur mit dem Vorwissen um Werk und Bedeutung von Volker Braun zu verstehen. Dieses Vorgehen belässt den Texten ihre Fremdheit und versucht ihren Eigenwert in ihrer durchgearbeiteten Unfertigkeit zu inszenieren – ein paradoxes Unterfangen, das schon der Vorlage eingeschrieben ist.
Hat man sich in den Duktus der Inszenierung hineingehört, wird der Mensch hinter dem Text erkennbar, der als Autor um seine Worte kämpft, wie auch als Parteimitglied um den Aufbau des Sozialismus. Der keine Kompromisse machen will und es dennoch tut. Der gedemütigt wird und der sich bestechen lässt: ein Artikelchen in der FAZ für die Genehmigung eines Gedichtbands. Der den Hierarchen der DDR-Kulturbürokratie gegenübersteht, die von den von ihnen drangsalierten Künstlern geliebt werden wollte, weil sie das Volk nicht auflösen und sich ein anderes wählen konnte.
Die Kunst hatte eine herrschaftslegitimierende Funktion, weil man sich die Legitimation nicht durch freie Wahlen holen konnte oder wollte. Braun war sich dieser Ambivalenz bewusst und wusste seine Rolle in dem Spiel einzuschätzen. Er blieb nach der Unterzeichnung der Biermann-Petition in der DDR – und begann mit seinem Arbeitsjournal, dessen erster Teil von 1977 bis 1989 den Untertitel „Training des aufrechten Gangs“ trägt. Am 4. November 1989, anlässlich der Großdemonstration auf dem Alex („Es geht nicht um Bananen, es geht um die Wurst“), wird er seinen Kleinmut erkennen.
Rückkehr in die Vorzeit
Der zweite Teil umfasst den Zeitraum von 1990 bis 2008 und heißt „Rückkehr in die Vorzeit“. Gemeint ist damit jene Zeit vor Beginn der eigentlichen Geschichte, die in der DDR begonnen hat und schon wieder vorbei ist, die aber wieder beginnen kann. Volker Braun fasst das so: „Jetzt bin ich in der Geschichte, und eine andere Frage stellt sie nicht, auch wenn sie vorbei ist; vorbei und verloren ist, und man sieht nun, was wahr war und was nicht war.“ Das letzte „war“ könnte man auch mit „h“ schreiben. Manchmal ist es nur ein Buchstabe, an dem man eine Haltung ablesen kann. Braun fährt fort: „Denn es ist jetzt mein eignes Gebiet, das unbesetzt ist, von den Truppen der Doktrin und des Glaubens, und nur Hoffnung vielleicht siedelt, die uns betrügt und weiterträgt. Das muss ich schreiben und nicht erleben.“
Die Rückkehr in die Vorzeit ist aber auch eine Rückkehr in die eigene Vorgeschichte. Das Journal endet am 15. September 2008 in der Hörspielfassung bei Minute 40 des zweiten Teils. Ab da läuft die Zeit rückwärts – eine Rückblende in Brauns eigene Familiengeschichte. Sein Vater fällt als Soldat am 6. Mai 1945, am Tag vor Volkers sechstem Geburtstag und zwei Tage vor Kriegsende. Warum ihn die Mutter, die mehrfach vergeblich über die grüne Grenze ging, um seinen Leichnam zu bergen, ihn nicht vom Krieg zurückgehalten hat, fragt sich Braun.
Die Mutter, die ihn und seine fünf Brüder allein durchgebracht hat, stirbt 1996. Die berührende, neun-minütige Szene, die von Corinna Harfouch mit großer Empathie umgesetzt wird, liefert den Hintergrund für die Kunstproduktion des Dichters Volker Brauns. Danach beginnt die Zeit wieder vorwärts zu laufen. Schneller als vorher und geschmeidiger: „Die Hauptverwaltung entfällt und damit die Zeit der Ablagerung“, denkt Braun ein wenig wehmütig an die zähen vergangenen Kämpfe zurück, jetzt „ist es nur ein Verlag, der urteilt – gegen so wenig Widerstand bin ich wehrlos.“
Auch wenn Arbeitsjournale eher etwas für Fans oder die Literaturwissenschaft sind, funktionieren diese „Werktage“ auch als Hörspiel. Man bekommt eine Ahnung davon, wozu jemand fähig ist, der als Maschinist auf einem Braunkohlebagger ganze Landschaften durchgearbeitet hat, wenn er sich wie Volker Braun der Sprache zuwendet.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 09.04.2024
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