Ein 13155 Kilometer langer Unort
Der ortsbezogene Audiowalk in Kunstkopfstereophonie „A0“ von Caroline Böttcher und Julia Ohlendorf entführt die Hörer zu einem Ort, der eigentlich ein Unort ist – ein Transitraum, in dem man sich nicht gerne aufhält – die Autobahn.
Caroline Böttcher und Julia Ohlendorf: A0 – Ein ortsbezogenes Hörspiel an der Autobahn
DLF Kultur, Mi, 04.03.2025, 22.04 bis 23.00 Uhr,
Ernst Bloch spottete 1937 über die deutschen Autobahnen: „Eine seltsame Architektur, Tausende Kilometer lang, aber als Bauwerk etwas flach“. In den vergangenen Jahrzehnten ist das deutsche Autobahnnetz weiter gewachsen und noch immer werden dreistellige Millionenbeträge in den Ausbau investiert. Caroline Böttcher und Julia Ohlendorf begeben sich mit ihrem 43-minütigen Stück „A0“ an die Ränder des größten Bauwerks Deutschlands und laden zum Besuch der fiktiven Ausstellung „13155 Kilometer“ ein – so lang war das deutsche Autobahnnetz zum Zeitpunkt der Produktion des Stücks. In dem als ortsbezogener Audiowalk konzipierten Hörspiel sind sieben soundbasierte Arbeiten zu hören, die von charakteristischen Merkmalen der Autobahn wie der Leitplanke, der Fahrbahn oder dem Rüttelstreifen inspiriert sind.
Die unabhängige Hörspielproduktion „A0“ hat über den Leipziger Hörspielsommer und das Berliner Hörspielfestival seinen Weg ins Radio gefunden, wurde aber auch als Audiowalk entlang der Berliner Stadtautobahn A 100 von Jungfernheide bis zum Goerdelersteg aufgeführt. Es wird empfohlen, das binaural in Kunstkopfstereophonie produzierte Stück mit Kopfhörern zu hören – am besten mit Blick auf eine Autobahn.
Exponate zwischen Satire und Dokumentation
Während man also zu Hause weitgehend bewegungslos aus dem Fenster schaut oder sich durch das Straßenbegleitgrün bewegt, führt einen die Stimme von Naomi Krauss als Museumsführerin an den Sound-Exponaten vorbei. „Mittelstreifen, unterbrochen“ heißt die erste Arbeit der Sounddesignerin Sonja Harth, die auch das gesamte Hörspiel gestaltet hat. Ihr Exponat besteht aus einem Hupkonzert mit Orgelbegleitung und „oszilliert“ zwischen den anderen Werken. Der erklärende Jargon ist gerade in seinem Kuratorendeutsch so punktgenau getroffen, dass man sich des Öfteren fragt, ob man es hier mit einer hyperrealistischen Parodie zu tun hat, die weitgehend auf Ironiesignale verzichtet, oder ob die Autorinnen das wirklich ernst meinen.
Wenn zum Beispiel das Exponat 4 mit dem Titel „Stahl, 54 %“, der Ton-Tanz-Choreografin Jule Flierl ein Sprechgedicht aus naheliegenden Lautverbindungen rezitiert („Krrrrrrrrrraftfahrstraße Schnnnnnnnnellfahrstraße k-k-kkkkkaracho“) und in der Strophe „PS“ Pferdewiehern zum Motorengeräusch wird, glaubt man endgültig im Bereich der Satire angekommen zu sein. Doch weit gefehlt, Jule Flierl gibt es wirklich und sie arbeitet in beiden Bereichen, Ton und Tanz. Ob das jetzt eine Eins mit Sternchen im Fach Selbstironie gibt?
Andere Exponate sind eher dokumentarisch angelegt und profitieren von Conrad Kunz‘ Kulturgeschichte von Männlichkeit, Moderne und Nationalismus, „Deutschland als Autobahn“. Kunz beschreibt das menschenleere Gemälde „Aufstieg zum Irschenberg (Oberbayern)“ von Wolf Panizza, das 1936 in der Wanderausstellung „Die Straßen Adolf Hitlers in der Kunst“ gezeigt wurde und in der Audiowalk-App auf der Plattform Guidemate als visuelle Landmarke präsentiert wird. Andere Bilder des Künstlers, der in der NS-Zeit diverse Preise erhielt, wurden übrigens als „entartet“ aus den Museen entfernt.
Die Destruktivkraft der Autobahn
Wie überhaupt die NS-Geschichte der Autobahn und ihrer Profiteure – unter ihnen die Familie Quandt – im Hörspiel präsent ist. Ebenso wenig wie die mehr als 180.000 Kriegsgefangenen und zehntausende Juden, die dem Programm „Vernichtung durch Arbeit“ zum Opfer fielen, weil beim Straßenbau „zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird“, wie es zynisch auf der Wannsee-Konferenz 1942 hieß.
Doch die Geschichte der deutschen Autobahn begann vor der Nazizeit mit einem privatwirtschaftlichen Projekt der HaFraBa-Straße, die 1930 die Hansestädte über Frankfurt mit Basel verbinden sollte, aber als unrentabel galt, weil damals gerade einmal ein Prozent der Bevölkerung ein Auto besaß. Fiktive Briefe aus Amerika, Italien und Deutschland erzählen Geschichten der mautpflichtigen Autostraßen vor 1933. Authentisch ist dagegen die Rede des Kölner Oberbürgermeisters und späteren Bundeskanzlers Konrad Adenauer zur Eröffnung der Kraftfahrstraße zwischen Köln und Bonn vom 7. August 1932.
Eine ironische Triggerwarnung für diejenigen, die „sensibel auf intensive Töne reagieren“, erlauben sich die Autorinnen bei Exponat Nummer 6 „Rüttelstreifen“ des Komponisten Johann Winde, der das gesamte Hörspiel musikalisch begleitet hat.
Ideologiegetriebener Autobahnausbau
Als Schmankerl gibt es gegen Ende dann einen Satz, der sich besser liest als anhört:
In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktivkräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktivkräfte.
Der Titel des Werkes, aus dem das Zitat stammt? „Die deutsche Ideologie“, verfasst haben es ein Trierer Ökonom und ein Wuppertaler Baumwollfabrikanten: Karl Marx und Friedrich Engels. Mit „Verkehrsmitteln“ sind hier natürlich keine Automobile gemeint, wer hätte in den 1840er Jahren auch schon daran denken können. Aber als Metapher erklären die Mittel des Verkehrs untereinander vielleicht doch, warum der ideologiegetriebene Autobahnausbau in Deutschland eher destruktiv als produktiv ist.
Der Konkretion des Bauwerks Autobahn aus Asphalt und Beton sowie seinen historisch wie ökologisch verheerenden Auswirkungen entspricht seine Abstraktion als immaterieller Transitraum – in der verteilten Ortlosigkeit eines Netzes. Ähnlich dialektisch funktioniert das Hörspiel „A0“, das einem 13155 Kilometer langen Unort mit einem ortsbezogenen Hörspiel, das auf eine binaurale Räumlichkeit setzt, beizukommen versucht. Insofern ist das Radio, dessen elektromagnetische Wellen sich an keine materiellen Strukturen halten müssen, wohl das beste Medium für diesen ebenso unterhaltsamen wie aufschlussreichen, imaginären Audiowalk.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 06.03.2025
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