Dokumentation, Valerie Weber: Grußwort zum 65. Hörspielpreis der Kriegsblinden 2016
Meine Damen und Herren, liebe Frau Müller, lieber Herr Hain,
schön, dass Sie da sind! Schön, dass wir uns wiedertreffen, wiedersehen und wiederhören bei dieser wundervollen und historischen Preisverleihung. Zum 65. Mal verleihen wir heute diesen Preis: den „Hörspielpreis der Kriegsblinden“. Und neben diesem fast runden Jubiläum feiern wir übrigens noch ein tatsächlich ganz rundes, das ich unbedingt erwähnen möchte, das älter ist als jedes Hörspiel: Das 100-jährige Jubiläum des „Bundes der erblindeten Krieger“ – den gibt es nämlich seit dem 5. März 1916. In diesem Jahr gab es bereits Experimente und Versuche zur Übertragung von Tönen, Sprache und Musik und 1919 und 1920 in den Niederlanden und den USA so etwas wie erste Radiosendungen. Mitte der 20er Jahre wurden dann tatsächlich die ersten Hörspiele ausgestrahlt.
Der „Hörspielpreis der Kriegsblinden“ ehrt die Originär-Form des Hörspiels und ist somit für das Hörspiel enorm wichtig. Er macht jedes Jahr aufs Neue auf eine Kunstform aufmerksam, die manchmal in der Begriffsverwirrung zwischen Hörbuch und Hörspiel zu verschwinden droht. Wir ehren heute ein Hörspiel, das „in herausragender Weise die Möglichkeiten der Kunstform realisiert und erweitert“, wie es die Statuten des Preises formulieren. Als Theaterwissenschaftlerin bin ich ja eigentlich mehr dem Schauspiel verpflichtet und bin doch zum Hörfunk gegangen, weil Sie bei jeder darstellenden Kunst schnell verstehen, dass das schönste Schauspiel in der Fantasie der Menschen entstehen kann, wenn man es mit den richtigen Worten weckt. Und es gibt nach wie vor viele Menschen, die diese besondere Form der akustischen Kunst nutzen und wertschätzen – als etwas, das ihr Leben bereichert, ihre Fantasie anspricht und die Welt erlebbar macht.
Doch wenn wir ehrlich sind: Um in den Genuss eines echten Hörspiels zu kommen, benötigen wir heute den Hörfunk gar nicht mehr. Viel mehr Hörspiele, als jemals gesendet werden können, werden übers Internet aufgerufen. Man hört auf Abruf; auf Knopfdruck bekommt man die schönsten Fantasiewelten nach Hause auf den Kopfhörer oder auf den Laptop geliefert. Die Hörspiele des WDR haben durch Radiohören in Nordrhein-Westfalen 750.000 Hörer im Monat, verteilt auf Sendeplätze bei WDR 3, WDR 5 und 1LIVE. Jetzt, nach Einführung der horizontalen Hörspielstrecke bei WDR 3, die schon um 19 Uhr beginnt, statt wie bisher um 23 Uhr, haben wir das Potenzial an Interessenten für das Hörspiel noch einmal verdoppelt. Durch Abrufe im Internet werden die Hörspiele noch etwa 1 Million Mal gehört. Beeindruckende Zahlen, bei denen man sich durchaus die Frage stellen kann: Warum führt dann der WDR ausgerechnet in dieser Zeit eine eigene Hörspielstrecke um 19:00 Uhr bei WDR 3 ein und verlegt dieses Genre nicht einfach komplett ins Netz? Dies hätte für die Nutzerinnen sicherlich auch etwas Bequemes, immer zeit- und ortsunabhängig Hörspiele genießen zu können. Warum macht der WDR das, wenn das Hörspiel seine Nutzer doch so viel bequemer im Netz erreicht? Nun, die Antwort ist einfach: Weil einem das Netz nur das bietet, was man sucht. Das Internet stillt nur Bedürfnisse, die schon vorhanden sind.
Aber haben wir in unserer heutigen Gesellschaft wirklich das Bedürfnis, zuzuhören? Können wir das überhaupt noch? Gibt es da nicht eine berechtigte Sorge, dass die Generation von morgen das Zurücklehnen und Zuhören verlernt? Und ist es nicht im besten Sinne unseres öffentlich-rechtlichen Auftrags genau dieses Zuhören aktiv zu fördern? Gegen den Strom, gegen die Quote, gegen den Mainstream. Erich Fromm hat mal gesagt: „Zuhören ist eine Kunst, ebenso wie das Verstehen von Dichtung, von Literatur. Es hat wie jede Kunst seine eigenen Regeln: Gutes Zuhören braucht Empathie.“
Zuhören benötigt Ruhe. Ruhe, um eine Stunde oder 30 Minuten einem Schauspiel für die Ohren zu folgen. Zuhören benötigt Zeit. Zeit, um mal passiv anderen Gedanken zu folgen. Und Zuhören benötigt Muße. Muße – auch das ist übrigens ein Begriff, der in unserer Mitteilungsgesellschaft völlig außer Mode gekommen ist, da Muße so schlecht in den Zeitgeist passen will. Ich sage übrigens bewusst „Mitteilungsgesellschaft“ und nicht „Informationsgesellschaft“. Denn „Informationsgesellschaft“ klingt so, als wäre unsere Gesellschaft in aller Breite informierter als früher – und das wage ich zu bezweifeln. Unzweifelhaft aber ist, dass wir uns heute und immer mehr in großem Stile mitteilen. Sie können Radio hören und sich gleichzeitig mitteilen. Aber sie können eben nicht mit der nötigen Muße, Ruhe und Zeit ein Hörspiel hören – und gleichzeitig SMS schreiben, jemandem bei Facebook folgen oder twittern. Hörspiel ist auch ein Rückzug. Für viele ein aktiver Rückzug.
Sollen wir uns deshalb mit dem Hörspiel ganz ins Internet und auf die Abrufbarkeit zurückziehen? Es wäre logisch, aber gefährlich für die Entwicklung von potenziellen neuen Hörern. Deswegen wagen wir beim Westdeutschen Rundfunk den Sprung nach vorne – dem Hörer entgegen – auch, wenn es Quote kosten mag. Wir bieten an, wieder zuhören zu lernen, sich verführen zu lassen: Von wunderbaren Geschichten in eine andere Welt.
Unseren Kreis heute Abend verbindet das Zuhören. Deshalb bin ich sehr froh, heute im Kreis so zahlreicher Verbündeter, so zahlreicher Zuhörer zu sein! Ich weiß, Sie verstehen mich, wenn ich sage: Ein Preis, wie derjenige, der heute verliehen wird, ist bedeutsam, ist für das Hörspiel, ist für unsere Gesellschaft wichtig. In diesem Sinne, Ihnen allen einen schönen Abend!
Valerie Weber, Hörfunkdirektorin des Westdeutschen Rundfunks (WDR), 11.05.2016.
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