Die unerreichbare Null
Liquid Penguin Ensemble: Cyfre oder: Kopf und Zahl
Sonntag, 08.11.2020, 17.04 bis 17.55 Uhr
Cyfre, gesprochen Siffre mit scharfem s, ist ein altfranzösischer Begriff und bezeichnet – anders als das allgemeinere deutsche „Chiffre/Ziffer“ – die Zahl Null. Cyfre kann außerdem Himmel, Raum und Leere, Kreis und Punkt bedeuten, wie es in den erläuternden Sätzen des Liquid Penguin Ensembles zu seinem Zahlenkammerkonzert „Cyfre . das hörbare Nichts“ heißt. Das Konzert, das am 30. Januar 2020 in Saarbrücken uraufgeführt wurde, steht in enger Beziehung zum Hörspiel „Cyfre oder: Kopf und Zahl“. Doch das ist nicht der ganze Titel, denn das Liquid Penguin Ensemble (Katharina Bihler und Stefan Scheib) hat einen Hang zum barocken Frankreich, wie man schon in seinem mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden und als Hörspiel des Jahres ausgezeichneten Stück „Ickelsamers Alphabet“ (Kritik hier) feststellen konnte.
Barock kommt also auch der Untertitel von „Cyfre“ daher, der verrät, worum es gehen soll, der Untertitel lautet nämlich:
„Zahlensammelsurium und Parcours in 7 Abschnitten oder Etappen mit 6 Rauch- und Regenpausen, 5-teiliger Rechenaufgabe, Besichtigung von 4 verschiedenen Zahlenräumen, circa 3 Wettkämpfen (Primzahlweitsprung, 3 gegen 4, Dauerlauf der Metronome), 2 Ausflügen mit Vögeln und einem großen Loch am Ende“.
Kurz, es geht um einen Countdown, der sich dem nähert, was schon im Titel angedeutet wird: der Null als metaphorischem Zentrum, einem Paradox, das sowohl die Leere als auch einen Punkt bedeuten kann. Die sieben Abschnitte des Parcours sollen in 1470 „Doppelsekunden“, das sind 49 Minuten, durchschritten werden. Nur, dass a) das Hörspiel 51 Minuten lang ist und b) eine Doppelsekunde keine Maßeinheit ist, sondern eine Komplikation in einem mechanischen Uhrwerk darstellt, mit der man die Zeit stoppen kann. Anhalten kann man die Zeit dadurch zwar nicht, aber der metaphorische Umgang mit mathematischen Begriffen durchzieht das ganze Hörspiel.
Da durcheilt C – alle Figuren im Hörspiel sind mit Buchstaben (Variablen) bezeichnet – die Zahlenräume der natürlichen, reellen, rationalen und irrationalen Zahlen, um letztendlich bei den imaginären zu landen. Doch um von Letzteren, den imaginären Zahlen (beispielsweise der Wurzel aus -1), überhaupt reden zu können, muss man ihnen ein reelles Mäntelchen umhängen. Das Mathematische wird im Hörspiel zum Metaphorischen. Wie umgekehrt auch die Sprache die Zahlwörter metaphorisch auflädt: „einfältig, zwielichtig, dreifaltig, vierschrötig“. Wie mit Zahlen, (R-)Werten und Statistiken Geschichten erzählt und manchmal auch Ideologien befeuert werden, kann man ja gegenwärtig an den Diagrammen, Graphen und Exponentialfunktionen ablesen, die die Corona-Pandemie beschreiben sollen.
In den Sätzen von Katharina Bihler, die auch die einzige Sprechstimme im Hörspiel ist, klingt die kurze Corona-Passage so:
C schätzt Maßstäbe. Richtwerte. Eindeutigkeit. Und verliert inmitten der Datenwolke die Übersicht: Überschlägt den Kipppunkt beim R-Wert, teilt durch 80 Millionen haushaltsübliche Mengen, fügt das Mittel der vergangenen sieben Tage hinzu, multipliziert alles mit einsfünfzig, erhält ein Ergebnis und ist damit genau eine Handbreit von der angenommenen Wahrscheinlichkeit entfernt. […]. Nach der Abstandsregel gelten 4 Hygieneeinheiten als Grauzone. Und 2 Haushalte pro Tisch sind erlaubt, bei 8 Atemzügen pro Nase und Minute.
Dass das Zählen dem Erzählen vorausgeht und dass sich musikalische Harmonien als Zahlenverhältnisse beschreiben lassen, weiß man seit der Antike. Euklidische Rhythmen auf der Basis der Fibonacci-Zahlen, bei denen die Summe der vorhergehenden Zahlen die folgende ergibt (1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34…), bilden das musikalische Gerüst für einen Teil des Hörspiels. Aber auch das bisher ungelöste zahlentheoretische Collatz-Problem, die sogenannte (3n+1)-Vermutung,1 generiert eine Zahlenfolge, die, egal bei welchem Anfangswert, immer in der Folge 4, 2, 1 mündet. Nimmt man als Basis die 88 Tasten eines Klaviers so ist man in überschaubar wenigen Schritten in einer Wiederholungsschleife: 88, 44, 22, 11, 34, 17, 52, 26, 13, 40, 20, 10, 5, 16, 8, 4, 2, 1, 4, 2, 1… – ein Countdown, der aber eben nicht in dem großen schwarzen Loch der Null mündet, sondern der Unendlichkeit der Repetition. Man muss dieses Konstruktionsprinzip nicht kennen und es wird im Hörspiel auch nicht erklärt, aber die Regelhaftigkeit der Komposition von Stefan Scheib, die auch Henry Purcell, Johann Sebastian Bach und Nicola Vaccai zitiert, teilt sich dennoch mit.
Auch wenn sich das Liquid Penguin Ensemble in seinem Hörspiel konsequent auf die Cyfre zubewegt, so vermeidet es doch, das „große Loch“ am Ende zu erreichen. Denn sobald die 1 erreicht ist, geht es in unendlichen, immer kleiner werdenden Schritten durch die Bruchzahlen. Letztendlich wird man aber dem, was Cyfre bezeichnet, nicht entkommen können, sei es nun die Null, der Himmel, oder die Leere. An diesem Punkt wechselt das Hörspiel die Richtung und wechselt vom Countdown zum Countup, indem es heißt: „X zählt zu Unendlich. Er zählt nicht zu Null. Das Leben in ihm zählt zu Unendlich. Das Leben glaubt nicht an eine letzte Zahl. Die Mathematik weiß keine letzte Zahl.“ Dazu hört man einen Teil aus Bachs Kanon „Musikalisches Opfer“, dessen Melodie sich unmerklich aufwärts durch die Tonarten bewegt und eine Oktave höher ankommt. Natürlich geht es, wenn sich die Kunst mit Zahlenräumen und Maßverhältnissen beschäftigt, nicht nur um Mathematik. Denn die ist ein hochabstraktes Beschreibungssystem, reflektiert natürliche und gesellschaftliche Prozesse und beeinflusst sie durch Rückkopplungen. In dem ebenso unterhaltsamen wie aufschlussreichen Hörspiel „Cyfre oder: Kopf und Zahl“ kann man das sogar hören.
1 Das Collatz-Problem:
Beginne mit irgendeiner natürlichen Zahl n > 0.
Ist n gerade, so nimm als nächstes n / 2.
Ist n ungerade, so nimm als nächstes 3 n + 1.
Wiederhole die Vorgehensweise mit der erhaltenen Zahl.
Die (3n+1)-Vermutung lautet: Jede so konstruierte Zahlenfolge mündet in den Zyklus 4, 2, 1, egal, mit welcher natürlichen Zahl n > 0 man beginnt.
Jochen Meißner –Medienkorrespondenz /20
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