Die notwendigen Dinge verbreiten
Tomas Fitzel, Sven Hecker, Max Knieriemen: Radio macht Geschichte
SWR/MDR/RBB für die ARD-Audiothek
linear unter anderem im RBB-Kulturradio, 09.10.-24.10.2023, werktäglich 7.10 bis 7.25 Uhr
Weil sich am 29. Oktober der Beginn des Deutschen Unterhaltungsrundfunkdienstes zum hundertsten Male jährt, feiert das öffentlich-rechtliche Radio sein Medium mit vielen Sendungen. Ein 15-teiliger Podcast zeigt, was Radio alles kann – und ist im linearen Programm kaum zu finden.
Bonn (KNA) Als der Berliner Zigarrenhändler Wilhelm Kollhoff am 31. Oktober 1923 für 350 Milliarden Reichsmark die Rundfunkempfängerlizenz Nr. 1 erwarb und damit ein Jahr lang legal Radio hören durfte, war der genehmigungspflichtige „Deutsche Unterhaltungsrundfunkdienst auf drahtlos-telefonischem Wege“ gerade mal zwei Tage alt. Es herrschte Hyperinflation und das Radiogerät von Telefunken wurde auch erst zwei Wochen später geliefert. Was aus dem ersten elektronischen Massenmedium werden sollte, konnte man damals noch nicht ahnen.
In einem 15-teiligen Podcast „Radio macht Geschichte“ gehen die Autoren Tomas Fitzel (RBB), Sven Hecker (MDR) und Max Knieriemen (SWR) in einer Koproduktion für die ARD der Entwicklung des Mediums nach. In ganz unterschiedlichen thematischen Blöcken geht es von den Anfängen des Radios über Schlager und Zwölftonmusik, Inserate aus der Luft, Blitzer, Wetter, und Wasserstände bis zu Nachtprogramm, Propaganda, Service, Unterhaltung und Kultur.
Cello und Trautonium
In den einzelnen Folgen ist fast immer noch mehr drin, als draufsteht. So erfährt man beispielsweise in der sehr guten Folge über Musik im Radio auch viel über die Rundfunktechnik. „Funkgeeignete“ Musik war am Anfang gefragt, was an der begrenzten Kapazität der Mikrofon-, Übertragungs- und Empfangstechnik lag. Das Cello klang im Radio einfach runder als das spitze Klavier.
Der Ingenieur Friedrich Trautwein erzählt im O-Ton, dass er damals nur zwei Möglichkeiten gesehen habe: entweder die ganze Technikstrecke zu verbessern, oder für die musikalischen Sendungen das Mikrofon ganz zu vermeiden und die Tonschwingungen mit Hilfe von Verstärkerröhren unmittelbar zu erzeugen. Auf diese Weise entstand das erste elektronische Musikinstrument. Wie das von ihm entwickelte Instrument hieß („Trautonium“) und dass es dreißig Jahre später in Alfred Hitchcocks Film „Die Vögel“ zu internationaler Berühmtheit kommen sollte, erfährt man nicht. Dazu ist im Podcast leider keine Zeit.
Denn die 15 Folgen sind alle lediglich zwischen 12 und 14 Minuten lang. Diese Kürze ist das größte Defizit der Reihe. Zwar passen die Häppchen so ins lineare Programm, beispielsweise morgens um 7.10 Uhr ins Kulturradio des RBB oder um 17.45 Uhr in die „Impulse“ auf SWR 2, aber wo sie sonst auf den Kulturwellen zu finden sind, weiß auf Nachfrage des KNA-Mediendienstes nicht einmal die Redaktion.
Kleinteiligkeit als Stärke
Die Folgen sind alle sehr kleinteilig geschnitten, was das Format mit sich bringt, aber auch eine Stärke ist. Und weil mit Tomas Fitzel, Sven Hecker und Max Knieriemen drei Profis am Werk sind, hört man eben nicht nur die erwartbaren und tausendmal abgenudelten O-Töne, sondern wird mit richtigen Entdeckungen belohnt. Man möchte sich gar nicht ausmalen, was daraus hätte werden können, wenn man, wie es in letzter Zeit Mode geworden ist, irgendeine (gar nicht so billige) Podcast-Klitsche mit diesem Projekt betraut hätte.
So erfährt man beispielsweise, dass das Startsignal zur portugiesischen Nelkenrevolution 1974 eben nicht „Grandola, Vila Morena“ war, sondern der Schlager „E Depois do Adeus“. Die spätere Revolutionshymne lief erst, als der Aufstand schon im Gange war. Es sind solche Kleinigkeiten, die den Unterschied zwischen oberflächlichem Versendematerial und sorgfältig recherchierten und handwerklich gut produzierten Inhalten ausmachen. Regie führten Günter Maurer und Sven Hecker.
Bei drei Autoren lassen sich Redundanzen im Material nicht immer vermeiden. Aber auch wenn man die insgesamt etwas mehr als drei Stunden am Stück hört, fallen sie nicht unangenehm auf. Joseph Goebbels‘ berüchtigte Rede vom März 1933 „Der Rundfunk gehört uns“ kommt mehrfach vor. Sein erstes Gesetz des nationalsozialistischen Rundfunk war: „Nur nicht langweilig werden!“ – was frappierend an den Werbespruch des RBB „Nur nicht langweilen“ erinnert. Außerdem wies Goebbels das Radio an: „Nur nicht die Gesinnung auf den Präsentierteller legen.“
Auf alle Themen und Ebenen des sehr hörenswerten Podcasts kann hier nicht eingegangen werden, deshalb nur ein paar Bemerkungen zu dem, was fehlt und was hätte vorkommen können, wenn man sich statt der Beschränkung auf 14 Minuten pro Folge die doppelte Zeit genommen hätte. Die Hörspiel-Folge („Ganz großes Radio“) konzentriert sich weitgehend auf die Frühzeit vor 1933, in der so ziemlich alle gegenwärtigen Formate des Radios schon entwickelt oder zumindest vorgedacht wurden. Man bekommt sogar einen Ausschnitt aus dem weitgehend vergessenen gereimten Arbeiterhörspiel „Ein Werk in Deutschland“ von Walter Bauer zu hören. Dann kommen die „Träume“ von Günter Eich aus dem Jahr 1951 und dann bis auf ein paar Serienformate („Familie Hesselbach“, West; „Neumann 2x klingeln“, Ost), einen Radiotag zum 50-jährigen Kriegsende und ein bisschen „ARD-Radio-Tatort“ so gut wie nichts über die ästhetischen Entwicklungen seitdem (wie zum Beispiel das „Neue“ Hörspiel mit großem N) zu hören. Das ist sehr schade.
In der Folge zur Propaganda kann man einen O-Ton vom Sender Gleiwitz hören, dessen fiktiver Überfall durch polnische Truppen Hitler als Vorwand für seinen Angriffskrieg diente. Anderes wiederum fällt hinten runter, wie die gespenstische Weihnachtsringsendung von 1942, als die Reichsrundfunkgesellschaft vermeintlich alle Fronten zusammenschaltete.
Leider kein Blick über den Tellerrand
Was außerdem fehlt, ist der Blick über Deutschland hinaus, beispielsweise auf Amerika, wo die Seifenoper erfunden wurde und mit Orson Welles‘ „War of the Worlds“ 1938 die berühmteste Fake-Fiction der Hörspielgeschichte über den Sender ging. Auch eine Analyse des durchformatierten Privatradios und seiner Nebenwirkungen für das öffentlich-rechtliche Programm kommen bis auf ein paar flüchtige Seitenblicke zu Radio Luxemburg nicht vor. Doch das sind kleine Mäkeleien am Rande.
Obwohl der Podcast immer auch Innovationen im Blick hat, gibt es eine Dimension des Radios, die auch in der Technikfolge („Vom Röhrenradio zur App“) nicht die gebührende Aufmerksamkeit bekommt. Es ist die Bedeutung des spezifischen Übertragungsweges. Seit Anbeginn nutzt das Radio das elektromagnetische Spektrum, um seine Programme zu verbreiten. Radiowellen überwinden Grenzen und Wände und sind anders als gestreamte Datenpakete nur unter großem Aufwand zu stören. Außerdem sind Radiohörer nicht trackbar. So wurden zu Beginn des Ukraine-Krieges abgeschaltete Rundfunksender wieder in Betrieb genommen. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Web-Infrastruktur in diesem Krieg von einem amerikanischen Milliardär nach Gutdünken an- und abgeschaltet werden kann. Das Radio funktioniert auch bei abgeschaltetem Internet und einen Sender kann man für wenig Geld selbst basteln.
In der letzten Folge des Podcasts, in der es etwas vage um die Zukunft des Radios geht, spielt der Übertragungsweg ebenfalls keine Rolle. Das von Menschen gemachte lineare Programm aber schon, wenn es sich nicht in formatiertem Flow erschöpft, sondern immer wieder überraschende Anreize setzt und wie Arnold Schönberg einst so treffend sagte, „die notwendigen Dinge verbreitet – nicht bloß die Überflüssigen“. Algorithmengestützte Programme wie „Daily Drive“ von Spotify oder gänzlich KI-generierte Sender wie „Radio GPT“ oder „bigGPT“ kommen in der Zukunftsfolge erst gar nicht vor. Das wäre wohl auch zu deprimierend.
Dabei gilt noch immer, was der Komponist Arnold Schönberg 1931 in einem Radiogespräch verkündet hat, bei dem er sich mit der Mehrheit der Rundfunkhörer auseinandersetzte: „Zu jeder Tages- und Nachtzeit serviert man ihr jenen Ohrenschmaus, ohne welchen sie scheinbar nicht mehr leben kann. Und so ist sie immer wild entsetzt, wenn sie einmal für eine kurze Zeit auf diesen Ohrenschmaus verzichten soll. Ich mache diesem Unterhaltungsdelirium gegenüber das Recht einer Minderheit geltend. Man muss auch die notwendigen Dinge verbreiten können, nicht bloß die Überflüssigen.“
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 19.10.2023
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