Die Kombinatorik des Ausgelöschten

Stephan Krass: Spell

SWR 2, Do, 27.05.2021, 22.05 bis 22.59 Uhr

Am 6. Juni 1966 ist in der Wiener Preßgasse 26 ein Mann umgebracht worden, während am selben Tag in der Nähe einer polnischen Kleinstadt ein Buchstabe vom Himmel gefallen sein soll, offenbar ein F, der sechste des Alphabets. In wenigen Sätzen zu Beginn seines 54-minütigen Hörspiels „Spell“ (was ebenso „buchstabiere“ wie „Zauberspruch“ heißen kann) entführt Hörspielautor Stephan Krass seine Hörer in das Setting eines Mystery-Krimis. Ramon vom „Department Cold Cases“, gespielt von Sebastian Blomberg, macht sich zusammen mit Lexis (Kathrin Angerer), einer Code-Spezialistin, auf die Suche nach etwaigen Zusammenhängen zwischen den beiden Ereignissen. Beauftragt worden sind die beiden vom bereits pensionierten Staatsanwalt Georg Philipp (Friedhelm Ptok).

Doch die Krimihandlung wird schnell von einem Spiel mit Zahlen und Buchstaben überlagert. Denn dass das Zählen dem Erzählen vorausgeht und dass die Zeichensysteme von Ziffern und Buchstaben einst eins waren, weiß man aus den Werken von Stephan Krass. Schon 2009 veröffentlichte er einem „Alphanumerischen Thesaurus“, ein „Wörterbuch der gewichteten Wörter“. Das ’spezifische Gewicht‘ eines Wortes ergibt sich demnach aus der Summe seiner Buchstaben, wobei gilt: A=1, B=2 bis Z=26.

Das Wort „Radio“ beispielsweise hat denselben Zahlenwert wie das Wort »Zahl“: 47. Die berühmteste Zahl in diesem Zusammenhang ist die 666, die Zahl des Tieres aus dem 13. Kapitel der biblischen Offenbarung des Johannes: „Wer Verstand hat, berechne den Zahlenwert des Tieres. Denn es ist die Zahl eines Menschennamens; seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig“ (Offb 13,18).  Seitdem rätselt man, welcher Name den Zahlenwert 666 hat – oder welchen Zahlenwert der Name zur Zeit der Niederschrift der Apokalypse des Johannes im ersten nachchristlichen Jahrhundert gehabt haben mag.

Seit der Erfindung des Rundfunks gibt im Frequenzspektrum der Kurzwelle (KW) Sender, die 24 Stunden am Tag ausschließlich Zahlen senden, in denen Botschaften codiert sind. In Hörspiel von Stephan Krass gibt es einen Zahlensender mit dem Codenamen F66 – was natürlich (F=6) wieder auf die biblische Zahl anspielt, denn in der Nomenklatur der Zahlensenderbeobachter gibt zwar Sender die mit E, G ,S, V, M und X bezeichnet werden, aber keine mit F. Ramon und Lexis stoßen im Laufe ihrer Recherchen auf allerhand merkwürdige Koinzidenzen, so zum Beispiel darauf, dass die Wörter „Zahlensender“ und Passwort denselben Zahlenwert haben. Aber im Werk von Krass, wie auch im Hörspiel „Spell“, geht es nicht um Zahlenmystik.

Es geht vielmehr um Kombinatorik, will heißen: um bestimmte Verfahrenstechniken der Erzeugung von Texten. Eine dieser Techniken ist die des Anagrammierens, das heißt, aus den Buchstaben eines Wortes oder Satze neue Wörter oder Sätze oder wie hier Gedichte zu machen. In gewisser Weise schließt „Spell“ thematisch, motivisch und methodisch an das Hörspiel „The Moon Tapes“ an, das Krass 2014 zusammen mit der Komponistin Ulrike Haage realisiert hatte (vgl. FK 24/14). Hinzu kommt ein neues poetisches Verfahren, die sogenannte „Erasure-Technik“, zu der sich Krass von der Anekdote „Der Griffel Gottes“ von Heinrich von Kleist hat inspirieren lassen. In dem kurzen Text wird der Grabstein der bösartigen Gräfin von P. von einem Blitz getroffen, so dass nur noch die Buchstaben übrigbleiben, die „sie ist gerichtet“ anzeigen. Was aber ist mit den durch göttlichen Blitz vernichteten Buchstaben geschehen?

Derart ausgelöschte Buchstaben dienen beispielsweise dem amerikanischen Romancier Jonathan Safran Foer („Tree of Codes“) als Material für ein kombinatorisches Sprachspiel auf Basis der „Zimtläden“ (englischer Titel „The Street of Crocodiles“) eines Textes von Bruno Schulz. Oder auch jenem Mann, einem Dichter, der am 6.6.66 in der Preßgasse ermordet worden sein soll und der sein Material von dem Zahlensender F66 übernahm. Denn in der Tat stoßen Ramon und Lexis auf Dateien mit Anagrammlyrik jenes „Autors“, auf dessen Grabstein in Versalien „RETURN TO SENDER“ steht. Dessen Gedichte werden im Hörspiel von Gottfried Breitfuß gesprochen.

Die Bezeichnung „Autor“ muss man hier aus mehreren Gründen in Anführungszeichen setzen. Denn zum einen negiert die Erzeugung seiner Texte den Begriff vom Autorgenie, zum zweiten wird auf das von Barthes bis Foucault in den 1960er Jahren diskutierte Konzepts vom „Tod des Autors“ rekurriert und zum dritten steht das Grab wohl leer. „Wir haben also einen Toten, aber keine Leiche. Wir haben ein Werk, aber keinen Autor. Zumindest nicht im klassischen Sinn. Wenn das nicht die perfekte Camouflage für poetische Sprachspiele ist!“, verrät Ramon gegen Ende des Hörspiels dessen Geheimnis. Unter der Folie der verrätselten Krimihandlung entwickelt sich eine Kombinatorik des Ausgelöschten, das wieder in die Literatur eingespeist wird.

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Schon die Namen der Protagonisten weisen darauf hin. „Ramon“, verweist auf den spanischen Mönch Ramon Llull, hier besser bekannt in seiner latinisierten Form als Raimundus Lullus, der im 13. Jahrhundert eine logische „Maschine“ aus sieben drehbaren konzentrischen Scheiben konstruierte auf denen sich Wörter unter anderem für die Attribute des Göttlichen miteinander kombinieren ließen. Auch „Georg Philipp“, der Staatsanwalt, der Ramon und Lexis auf die Spur des toten Autors setzt, spielt auf den Barockdichter Georg Philipp Harsdörffer an, der, wie vierhundert Jahre zuvor Lullus, eine Maschine aus verdrehbaren, runden Scheiben konstruiert hatte, die Buchstaben und Silben enthielten und so die Erzeugung neuer Wörter ermöglichte.

Die experimentellen Poesie von Stephan Krass, der Regisseur Ulrich Lampen ein Sounddesign gegeben hat, das der Rhythmik und Melodik der Gedichte folgt, arbeitet mit ähnlichen Mitteln der Kombinatorik. Man hört der Geburt der Dichtung aus dem Geist des Geheimdienstes zu. Denn gemeinsam ist dem literarischen Schreiben wie der nachrichtendienstlichen Tätigkeit ein und dasselbe: die Verschlüsselung. Und die gelingt in „Spell“ auf Ebene der Handlung, auf der Ebene der Figuren wie auf den Ebenen der Materialität von Buchstaben und Zahlen und der medialen Ebene der Zahlensender, die auf verschiedenen Kanälen senden. Nichts bedeutet nur das, was es oberflächlich aussagt, aber es steckt wohl auch kein Geheimnis dahinter. Denn die Regeln, nach denen alles geschieht, liegen offen da. „Zahl und Radio. Schön“, heißt es im Hörspiel. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 12/2021

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