Die Befreiung des Hörspiels aus dem Korsett des Literaturzwangs
Günter-Eich-Preis 2019 für Andreas Ammer und FM Einheit
Am 24. Juni wurde auf dem Campus ‚Villa Ida‘ der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig zum siebten Mal der Günter-Eich-Preis verliehen. Erstmals wurde mit dem alle zwei Jahre ausgeschriebenen und mit 10.000 Euro dotierten Preis nun ein Autorenduo ausgezeichnet: Andreas Ammer und FM Einheit geboren als Frank-Martin Strauß. Die fünfköpfige Jury (Vorsitzender: Wolfgang Schiffer, früherer Leiter der WDR-Hörspielabteilung) lobte in ihrer einstimmigen Entscheidung, dass das Duo das Hörspiel „endgültig aus dem Korsett des Literaturzwangs“ befreit habe. Die beiden Künstler hätten das Hörspiel „nicht nur aus dem künstlerischen Gehege geholt, sondern auch aus dem Gehege seiner Rezeption, aus den Wohnzimmern“ (vollständige Jurybegründung hier).
Als Konzerte, Opernaufführungen oder Performances fanden einige Hörspiele von Ammer und Einheit nicht nur im ortlosen Radio, sondern im konkreten öffentlichen Raum statt. Wie zum Beispiel die „Symphonie der Sirenen“ nach Arsenij Avraamov (Kritik hier), die in Zusammenarbeit mit der Philharmonie im tschechischen Brünn entstand und für die Ammer und Einheit den Titel des lautesten Hörspiels aller Zeiten reklamieren. Es pfiff eine Dampflokomotive, Kanonen wurden abgefeuert und natürlich heulten auch diverse Sirenen. Bei der Preisverleihung in Leipzig wurde ein Ausschnitt der filmischen Dokumentation dieses Ereignisses gezeigt, das auch auf der Website des Bayerischen Rundfunks (BR) nachzusehen und nachzuhören ist.
Verfahrenstechniken
Die Frage von Preisverleihungsmoderator Thomas Bille (MDR), ob eine Produktion wie „Symphonie der Sirenen“ denn noch Hörspiel sei, beantwortete Andreas Ammer, wie er sie immer beantwortet: „Wer bezahlt, bestimmt die Gattung.“ Die „Symphonie der Sirenen“ wurde von der BR-Abteilung ‚Hörspiel und Medienkunst‘ und vom Deutschlandfunk Kultur bezahlt, ist folglich ein Hörspiel. Nach dieser Logik ist das von Ammer/Einheit realisierte Ulrike-Meinhof-Stück „Alzheimer 2000/Toter Trakt“ eine Oper, weil es von der Oper Bonn beauftragt worden war (koproduziert und ausgestrahlt wurde es vom WDR und von Radio Bremen; Erstsendung: 12. Februar 2003).
Die Zusammenarbeit zwischen Andreas Ammer und FM Einheit funktioniert nach einem simplen Prinzip: Der Andere muss sich nach dem richten, der zuerst fertig ist. Ist die Musik zuerst fertig, muss der Text ihr folgen und umgekehrt. Die Stücke, die nach großen Stoffen der Literatur entstanden sind wie zum Beispiel ihre erste gemeinsame Produktion „Radio Inferno“ (BR; vgl. FK-Kritik) nach der „Göttlichen Komödie“ von Dante, seien, hebt Andreas Ammer hervor, eben nicht vertonte Literatur. Warum nicht? „Weil wir die Musik immer lauter machen, als die Redakteure es wollen.“
Eine weitere Verfahrenstechnik ist die Musikalisierung und Rhythmisierung der Wörter, der Einsatz von Sängern für Sprechpartien, von Blixa Bargeld bis Phil Minton. Eine dritte ist die, den Sound der Aufnahme- und Wiedergabegeräte in ihrer akustischen Materialität wie auch als sinntragendes Element mit einzubeziehen. Und eine vierte besteht darin, mit vorgefundenem (O-Ton-)Material zu arbeiten, das in Schnitt und Mischung in neue Kontexte findet oder diese neuen Kontexte erst erzeugt. Das Hörspiel, so Ammer weiter, sei die einzige Kunstform, die ein Medium hervorgebracht habe, abgesehen vom Kino, das den Film hervorgebracht habe. Das Fernsehen habe keine Kunstform hervorgebracht. Außerdem gäbe es ohne das Radio und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk das Hörspiel nicht.
Buch-Hörspiele
Schon bevor Andreas Ammer erstmals mit FM Einheit zusammenarbeitete, hatte er einige Hörspiele gemacht. Sein Erstlingswerk „Orbis auditus. Das Lautlexikon“ (BR) aus dem Jahr 1990 wurde von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste zum Hörspiel des Jahres gewählt. Das Stück sollte im linearen Medium des Radios eine Enzyklopädie der Geräuschkunst nachstellen und ebenso wie ein Buch benutzbar sein, nämlich nicht-linear. Das Hörstück enthält ein Titelblatt, eine Vorrede des Herausgebers und die Anweisung, jeden Buchstaben des Lexikons auf ein jeweils eigenes Band aufzunehmen und die dann in beliebiger Reihenfolge an beliebigen, aber bestimmten Orten abzuhören. Den Buchstaben „A“ beispielsweise auf Autobahnbrücken.
Der Buchform ist Andreas Ammer treu geblieben. Sein 2013 entstandenes Stück „GOTT“ (Kritik hier) nimmt sich des Lemmas „Gott“ aus der „Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste“ (1828-1889) an. Im Jahr darauf inszenierte er quasi als Gegengewicht ein Grundlagenwerk der analytischen Philosophie: „Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Das Hörspiel“ (Kritik hier), um schließlich 2016 mit „Unendliches Spiel“ (WDR/Deutschlandfunk) den 1500-Seiten-Roman „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace zum längsten Hörspiel aller Zeiten zu machen (Kritik hier).
O-Ton-Hörspiel
Doch auch der Originalton spielt schon früh eine wichtige Rolle im Werk von Andreas Ammer. Sein erstes O-Ton-Stück „Kaiser Wilhelm Overdrive“ karikierte mit dadaistischen Mittel den Aufruf Kaiser Wilhelms II. zu dem Krieg, der dann der Erste Weltkrieg wurde. Für des Herrschers Satz „Es muss das Schwert nun entscheiden“ wurden sämtliche anderen Substantive der Rede ausprobiert: „Es muss denn das Pferd nun entscheiden“ etc. pp.; dazu las der berühmteste Schauspieler der Kaiserzeit, Alexander Moissi, Goethes „Erlkönig“ und der Gitarrist Lars Kurz steuerte das Feedback bei. Die Spur des O-Tons lässt sich über das Requiem „Crashing Aeroplanes“ (WDR/Deutschlandradio Berlin) – für das Ammer/Einheit 2002 zum zweiten Mal den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhielten, nach dem für „Apocalypse Live“ (BR) im Jahr 1995 – bis zum aktuellen Stück „Sie sprechen mit der Stasi“ (Kritik hier) verfolgen. Ob die Stimmen auf den Bändern der Cockpit Voice Recorder abgestürzter Flugzeuge oder die beklemmenden Verhörprotokolle der Schergen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR – Ammer und FM Einheit respektieren in ihren Stücken stets die Würde des Materials und ihrer Sprecher.
In fast 50 Hörspielen und Radioessays hat Andreas Ammer in den letzten 30 Jahren alleine oder zusammen mit Komponisten und Musikern von Martin Gretschmann (alias Console) bis Ulrike Haage und vor allem mit FM Einheit die unterschiedlichsten Facetten des Hörspiels zum Aufleuchten gebracht und in den Theatersälen und Konzertarenen für eine neue Hörergeneration zugänglich gemacht. Andreas Ammer und FM Einheit haben, um noch einmal die Jury des Günter-Eich-Preises zu zitieren, „das Hörspiel befreit“.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz /2019
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