Der Tribun 4.0
Tim Etchells: Auch wenn wir gescheitert sind / Although We Fell Short
Deutschlandradio Kultur, 19.04.2015, 18.30 bis 19.30 Uhr
Eine der entscheidenden Fragen dieses Hörspiels ist: Wer spricht? Man kann diese Frage erweitern: Wer spricht mit welcher Stimme zu wem? Und nicht zuletzt: Was wird gesprochen und welchem Zweck dient die gesprochene Sprache? Der Text „Although We Fell Short“ des britischen Dramatikers Tim Etchells ist ein collagiertes Konglomerat aus Reden politischer Funktionsträger von Barack Obama bis George W. Bush, von Pol Pot bis Margret Thatcher, von Martin Luther King bis Malcolm X. Deren O-Töne werden im Hörspiel allerdings nur punktuell eingesetzt und stehen sehr dezent im Hintergrund.
Seinen Text hat Etchells ursprünglich 2011 als Monolog für die Performance-Künstlerin Kate McIntosh erstellt. Die 51-minütige Hörspielbearbeitung nach der Übersetzung von Astrid Sommer hat der Schweizer Regisseur Erik Altorfer besorgt, der auch schon Etchells’ Text „That Night Follows Day – Dass die Nacht dem Tag folgt“ als Hörspiel inszeniert hatte (vgl. FK 43/08). Der Titel des aktuellen Stücks stammt aus der Rede des republikanischen Kandidaten John McCain, als der im Jahr 2008 seine Niederlage im Präsidentschaftswahlkampf gegen Barack Obama eingestand: „We fought, and although we fell short, the failure was mine, not yours.“ Doch schon in den ersten Sätzen des Textes von Tim Etchells wird deutlich, dass es nicht um eine dokumentarische Aufarbeitung des Phänomens ‘politische Rede’ geht, sondern um die Auseinandersetzung mit einer Sprache, in der es weder auf rhetorische Eleganz noch auf Inhalt oder Bedeutung ankommt. Es geht eher um den manipulativen Spin, den Dreh, mit dem Botschaften rübergebracht werden sollen.
Der entlarvende Trick, den Etchells benutzt, ist denkbar einfach: Er kehrt die Satzaussagen seines Materials um. „Und auch wenn wir gescheitert sind, der Fehler liegt bei euch, nicht bei mir“, so lautet McCains Satz in Etchells Fassung. Aus seiner Selbstbezichtigung wird eine Anklage. Aussagen wie „Das ist der Augenblick für kleinliche und destruktive Kritik, für Anfeindungen und Schuldzuweisungen. Das ist nicht der Augenblick für Ideale oder dafür, die Wahrheit zu sagen“, diese Aussagen entfalten ihre Komik durch die simple Negation der erwarteten Stereotypen.
Ein zweiter Effekt des Verfahrens der Umkehrung ist ein bisschen gruselig: „Um ehrlich zu sein, ich war noch nie so sicher wie heute Abend, dass wir unser Ziel überhaupt nicht erreichen werden“, verkündet ein Redner und zieht daraus die Konsequenz, Anstrengungen zu unternehmen, „unseren Kindern und Enkeln ein schwächeres, gefährlicheres Land zu hinterlassen, als wir es einst geerbt haben“. Solche Formulierungen erhellen blitzartig den Diskurs, in dem die Abstiegsängste bestimmter Milieus zu latenten und manifesten Aggressionen führen. Wegen zuviel Spin-nerei steht sowieso jede Äußerung eines Politikers unter Manipulationsverdacht und so glaubt man lieber gar nichts mehr.
Nach so viel Glaubwürdigkeitsverlust müsste man als Spin-Doktor darauf setzen, die Authentizität des Redners selbst zur Manipulation zu nutzen. So auch im Text von Etchells: „Ich als Tochter einer Diplomatin und eines Diktators“ oder „Ich als Tochter eines Stahlarbeiters und einer Bardame“ sind austauschbare Formeln, die auf die jeweilige Zielgruppe angepasst werden. Trotz seines Sprechers André Jung hat Erik Altorfer den Text hier nicht gegendert.
Mehrere Traditionslinien des Hörspiels konvergieren in Altorfers Radiofassung von Tim Etchells Text. Die thematische wie formale Ähnlichkeit zu Mauricio Kagels WDR-Hörspiel „Der Tribun“ (vgl. FK 47/79), für das Kagel selbst die Rolle eines exaltierten Volksredners einnahm, ist kaum zu überhören. Als literarische Collage folgt das Etchells-Hörspiel einer Methode, die Elfriede Jelinek in ihrem Büchlein „Wolken.Heim“ verwendet hat. Texte von Johann Gottlieb Fichte bis zur RAF und von Kleist bis Heidegger lieferten das Material für Jelineks Rekombination einer komplexbeladenen deutschen Geistesgeschichte, die sich ab und zu gewalttätig entlädt. Peer Raben hat „Wolken.Heim“ 1992 im Auftrag des Hessischen Rundfunks (HR), des Bayerischen Rundfunks (BR) und des damaligen Senders Freies Berlin (SFB) als Hörspiel inszeniert (vgl. FK 45/92). Eran Schaerfs vom BR produziertes Hörspiel „Die Stimme des Hörers“ (vgl. FK 15/02) schließlich erweitert den Diskurs strategischer Kommunikationslenkung um einen medientechnischen Aspekt. Namens- oder Ortsangaben wurden von der Software eines Radiosenders automatisch durch „Soundso“ ersetzt – Algorithmen ersetzen Spin-Doktoren.
In Erik Altorfers Hörspielinszenierung ist es André Jung, der sämtliche Texte spricht, und zwar weder so exaltiert wie Mauricio Kagel seinen Tribun noch so steril und von allen Atmern befreit wie Peter Veit in „Die Stimme des Hörers“. André Jungs Stimme bewegt sich von der Tonalität eines privaten Hintergrundgesprächs über die eines trockenen Rundfunkstudios bis hin zu der eines öffentlichen Auftritts mit Megaphon durch unterschiedlichste akustische Räume, von denen man annehmen darf, dass sie alle mit den entsprechenden Plug-ins der Studiotechnik erzeugt worden sind. Die Künstlichkeit der manchmal abrupt wechselnden räumlichen Atmosphären entspricht der Widersprüchlichkeit der ideologischen Äußerungen sowie dem Wechsel von der ersten Person Singular zur ersten Person Plural, dem Wechsel der Anrede vom „Du“ zum „Sie“ und nicht zuletzt der Umkehrung von der Positiv- zur Negativform des Materials.
Eingebaut sind die Texte in die Komposition von Martin Schütz, die ebenso prägnante Akzente setzt wie André Jungs Stimme. Im Vergleich zu Mauricio Kagels lustvollem Zelebrieren rhetorischer Machttechniken 1979 und zu Eran Schaerfs technizistischem Ansatz 2002 ist das Hörspiel von Etchells ein Lehrstück über optimierte Kommunikationsstrategien der Gegenwart, in der sich die politischen Redner wie Agenten der Algorithmen aufführen. „In diesem Stück wird – durch Analyse – eine Synthese der politischen Rede dargestellt“, schrieb Kagel zu seinem „Tribun“. Ein Satz, der auch für das aufklärerische Stück von Tim Etchells gilt, das von einem Tribun 4.0 handelt.
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