Das Zeitalter der Gefühle

Feo Frank: Alice. 8-teilige Krimi-Hörspielserie

Deutschlandfunk Kultur, Mo-Do, 25.10.-28.10.2021, 22.03 Uhr bis 23.00 Uhr  (Doppelfolgen)
Deutschlandfunk. Sa 23.10.2021 und Sa 30.10.2021, 20.05 bis 22.00 Uhr (jeweils 4 Folgen hintereinander)
Bayern2, Mi 17.11., 24.11., 1.12., 8.12.2021, 20.05 bis 21.00 Uhr (Doppelfolgen)

Wenn es an einem Gerne in der deutschen Fernseh- und Radiolandschaft nicht mangelt, dann ist es der Krimi. Allein die inzwischen 160 Episoden des „ARD Radio Tatorts“ haben seit 2008 in den diversen Programmen der neun ARD-Landesrundfunkanstalten 1440 Sendeplätze belegt. Jetzt zieht auch das Deutschlandradio nach und pflasterte mit der achtteiligen Serie „Alice“, die den Auftakt zu einem neuen Krimi-Podcast-Angebot bildete, in zwei Programmen eine ganze Hörspielwoche voll.

Feo Frank: Alice 1/8Es begann an einem Samstag im Deutschlandfunk, wo die ersten vier Folgen der achtteiligen Serie liefen. Dann folgte die Ausstrahlung von „Alice“ bei Deutschlandfunk Kultur in vier Doppelfolgen, die an vier Tagen von Montag bis Donnerstag  gesendet wurden. Und es endete im Programm vom Deutschlandfunk wiederum an einem Samstag mit den letzten vier Folgen der Serie. Im November und Dezember ist das Ganze dann nochmal beim koproduzierenden Sender, dem Bayerischen Rundfunk (BR), zu hören. Das lineare Radio als eine Audiothek mit Sendelizenz. Und natürlich stehen seit Beginn der Ausstrahlung ohnehin auch sämtliche Folgen in den Audiotheken der beteiligten Sender.
Feo Frank: Alice 2/8Als Krimiserie ist „Alice“ nur unzureichend charakterisiert. Zwar gibt es in dem Radiodebüt von Feo Frank (ein Pseudonym des Berliner Schauspielers und Autors Dorian Brunz) einen Toten, er heißt Lasse, doch der ist von der Hauptfigur Alice, gesprochen von Marleen Lohse, eher unbeabsichtigt erschlagen worden. Denn bevor der Mann so unglücklich ums Leben kam, hatte Alice mit ihm Schluss gemacht – allerdings im Auftrag von Lasses Freundin Martha. Denn Alice hat bei einer Agentur einen Job als sogenannte „Hiobsbotschafterin“ angenommen und die Beziehung von Lasse (Fabian Busch) und Martha (Mira Partecke) zu beenden, war ihr erster Auftrag. Die Serie spielt im Übrigen in einer nahen Zukunft, in der Tabakrauchen geächtet ist und für Krankenhausbehandlungen im Voraus eine Kaution von 5000 Euro zu entrichten ist.
Feo Frank: Alice 3/8Alice ist gut in ihrem Job – talentiert im Lesen von Gesichtern, hochmanipulativ in ihrer Gesprächsführung und damit einhergehend eine Meisterin emotionaler Erpressung. Schon vorher hat sie sich gerne Storys ausgedacht und gegenüber ihren Freunden ein fiktives Leben inszeniert, ähnlich wie die Konzeptkünstlerin Sophie Calle. Das kommt ihr nun zugute, als sie, indem sie seine Social-Media- Kanäle weiterhin bespielt, Lasse digital lebendig hält, bevor sie, so ihr Plan, ihn irgendwo in den südamerikanischen Wäldern verschwinden lassen will. Zu dumm nur, dass da noch eine ziemlich analoge Leiche zu entsorgen ist, die zwischenzeitlich im leeren Pool ihrer Freundin liegt.
Feo Frank: Alice 4/8Doch zuvor führt Autor Feo Frank seine Protagonistin durch die Arbeit der Agentur, die von Florence (Kathrin Wehlisch) geleitet wird – einer Chefzynikerin, die in einem urwaldähnlichen Garten sitzt und nach der Devise verfährt: Andere belügen – und sich selbst auch. Denn, so formuliert sie eine Maxime: „Was soll falsch daran sein, die Wahrheit ein bisschen zu berichtigen, wenn am Ende ein glücklicheres Leben dabei herauskommt – für alle.“
Feo Frank: Alice 5/8hr Geschäftsmodell ist die Bewirtschaftung von Mitgefühl, denn wir leben nicht mehr im Zeitalter der Maschinen, sondern in dem der Gefühle, wie es im Stück heißt. Dazu muss der Mensch als Mensch adressiert werden, nicht etwa als Bürger oder Arbeitnehmer. Das heißt nicht, dass man ihn menschenwürdig behandelt, sondern nur, ihm das Gefühl zu geben, menschenwürdig behandelt zu werden – und natürlich bedeutet dies das krasse Gegenteil.
Feo Frank: Alice 6/8Und diese Weltsicht hat etwas für sich, wenn man sich in der heutigen Realität das Greenwashing der Konzerne oder die Kapitulation der Politik vor den Herausforderungen der Corona-Pandemie und des Klimawandels ansieht. Die Hörspielserie ist aber kein Thesenstück, sondern eines, in dem sich mehrere erstaunliche Wendungen vollziehen, etwa indem eine karrieristische Krankenhausleiterin aufgrund der Durchökonomisierung des Gesundheitswesens zur Altruistin wird. Hintergrund ist, dass die Agentur der Klinikleitung gegen Überlassung der Patientendaten die emotionale Drecksarbeit abnehmen will. Soll heißen: diejenigen, die sich die 5000 Euro Krankenhauskaution nicht leisten können, getröstet von der Notaufnahme wegzukomplimentieren. Mitfühlender hat sich Menschenverachtung noch nie inszeniert.
Feo Frank: Alice 7/8In der Öffentlichkeit ist die Agentur nicht besonders wohlgelitten und ihre Mitarbeiterinnen werden als „Mitleidshuren“ beschimpft, weil sie für Geld das tun, was Frauen früher umsonst getan haben: Trost spenden. Diese Art von Dienstleistung wird in der fünften Folge der Serie in zugespitzter Form erbracht. Alice wird von einem Lokalpolitiker für eine Art emotionale sadomasochistische Session gebucht, in der die demütigende Erfahrung seines 15. Geburtstags re-inszeniert wird. Auftraggeber und Opfer sind hier identisch. Das ist der Höhepunkt der libidinösen Bindung, die Alice gegenüber ihren Klienten empfindet, deren Leid sie genießt.
Feo Frank: Alice 8/8Unter der Regie von Eva Solloch spielt Marleen Lohse die Alice gleichzeitig als Figur und Erzählerin und wendet sich immer wieder an die Hörerschaft, als würde sie zwischendurch direkt in eine Kamera gucken wie Phoebe Waller-Bridge in der BBC-Fernsehserie „Fleabag“. Und immer wenn Alice zu Beginn jedes Auftrags ihren Einleitungsspruch aufsagt – „Mein Name ist Alice und ich habe leider schlechte Nachrichten für Sie“ –, dann weiß man nie, um was es in der jeweiligen Episode gehen wird. Denn die insgesamt rund vierstündige Serie „Alice“ ist weniger ein auf acht Folgen gestreckter Genre-Krimi als vielmehr eine Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Formen von Wirklichkeitskonstruktionen. Diese wird aber nicht als Diskursdrama verhandelt, sondern ist nach der Maxime „Show, don’t tell“ komplett in Handlung umgesetzt ist. Die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste hat das Stück zum Hörspiel des Monats Oktober gewählt und es wäre auch ein würdiges Hörspiel des Jahres 2021.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz /2021

Schreibe einen Kommentar zu Ein Petitesse und viel Prekäres. Das Hörspieljahr 2021 – Hoerspielkritik.de Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.