Das papierlose Hörspiel – Der 33. Prix Europa
Der 33. Prix Europa in Potsdam ohne Sand im Getriebe
Wenn in den vergangenen Jahrzehnten der Prix Europa vorbei war, wusste man, was man als Hörer geleistet hatte: 20 bis 30 Zentimeter hoch stapelten sich die Hörspielmanuskripte in Originalsprache und englischer Übersetzung. Die Skripte stimmten mehr oder weniger genau mit dem Gehörten überein, die Textgestaltung war mal ambitioniert, mal reduziert und für viele Hörer war es das erste Mal, dass man das georgische Alphabet in Aktion sehen konnte. Das heißt, zur Audiospur bekam man einen kulturspezifischen Mehrwert geliefert.
Damit ist es nun vorbei. In Potsdam, wo vom 6. bis 12. Oktober der diesjährige Prix-Europa-Wettbewerb stattfand – nachdem Berlin die Veranstaltung nicht mehr fördern wollte –, setzte man in den Radiokategorien ganz auf das papierlose Hörspiel (und beim Feature war es genauso). Das beim Prix Europa 2016 mit einer „Besonderen Empfehlung“ gewürdigte Internetprojekt „Radio Atlas“ (www.radioatlas.org), bei dem internationale Audioproduktionen englisch untertitelt wurden, lieferte das Vorbild. Auf Originalsprachen und -alphabete muss man künftig verzichten.
Doch schnell stellte sich heraus, dass die typografischen Anforderungen auf der großen Leinwand zwar andere sind als auf Papier, jedoch nicht minder komplex. Schriftarten und -schnitte, Einblendzeiten und -rhythmen können ein Hörspiel besser oder schlechter „lesbar“ machen. Und so gab es in der Abschlussdiskussion auch eine „Untertitel-Fraktion“, die alles Schriftliche nur auf das Allernötigste beschränken wollte und nach strengen Vorgaben rief: keine Sprecherangaben, keine Beschreibungen von Geräuschen oder ähnliches. Die andere Fraktion plädierte für typografische Freiräume, bei denen die Macher selbst über die beste schriftliche Repräsentation ihres Stücks entscheiden können sollten.
Ohrenspiele
Gleich beim ersten Stück des Hörspielwettbewerbs war die Verklammerung von Schrift und Ton durch gekonntes rhythmisches Timing sehr gelungen. Bei dem Stück handelte es sich um die tschechische Produktion „Hra na uši“ („Das Ohrenspiel“) von Jiří Adámek – Träger des Karl-Sczuka-Förderpreises 2019 (dort anzuhören). Der Autor setzt sich hier auf leichtfüßige und selbstironische Weise auf Basis eines Werks des Konzeptkünstlers Jiří Valoch mit den Bedingungen und den Möglichkeiten akustischer Kunst auseinander, indem er sie zeitgleich demonstriert und reflektiert. Ein Stück, das zeigte, dass es nicht unbedingt einer Erzählung bedarf, um ein spannendes Hörerlebnis zu schaffen. b
„Das Ohrenspiel“ hätte einen Preis verdient gehabt. Doch leider lief es auf dem undankbaren ersten Programmplatz des Wettbewerbs. Würde die Jury, die aus den Machern aller teilnehmenden Stücke besteht, nicht täglich abstimmen, sondern erst nachdem sämtliche Stücke gehört worden sind, dann wäre es vielleicht anders ausgegangen. Eine ähnlich enge Verbindung von Form und Inhalt wies nur Christoph Buggerts Hörspiel „Ein Nachmittag im Museum der unvergessenen Geräusche“ auf (Realisation: Liquid Penguin Ensemble für den Saarländischen Rundfunk), das leider auch in diesem Wettbewerb bei der Preisvergabe leer ausging.
Missbrauchsverhältnisse
Bekommen hat den Prix Europa für das beste europäische Hörspiel 2019 – und das war selten so erwartbar wie in diesem Jahr – ein Stück, in dem es um den jahrelangen sexuellen Missbrauch eines Vaters an seiner Tochter geht und aus dem zwei Kinder hervorgehen. Der zynische Pfarrer missbraucht das Mädchen ebenfalls. Damit sie ihm zu Willen ist, droht er ihr, ihre Kinder nicht zu taufen, die deswegen dann in die Hölle kommen würden. So heißt denn der Hörmonolog der Grazer Autorin Gabriele Kögl konsequent „Höllenkinder“. Unter der Regie von Elisabeth Weilenmann (früher: Elisabeth Putz) hören wir in ihrer Produktion für den Österreichischen Rundfunk (ORF) einen großen inneren Monolog der 82-jährigen Schauspielerin Gudrun Ritter, die auf die lästigen Fragen eines ihrer ‘Höllenkinder’ reagiert: „Er hat mir das Versprechen abgenommen, jedes Mal zur Beichte zu kommen, wenn der Vater sich drauflegt auf mich. Und so habe ich bald ein zweites Kind bekommen“.
Sieht man davon ab, dass im deutschsprachigen und im skandinavischen Raum Sexualität vorzugweise als Gewaltverhältnis beschrieben wird – was als gesellschaftliches Symptom an sich schon diskussionswürdig wäre –, handelt es sich bei „Höllenkinder“ um einen starken Text, der schon in seinem reduzierten Vokabular eine Figur plastisch werden lässt. Die Vorlage war ein Prosatext der Autorin. Es sind die Auslassungen und Umschreibungen, die den Rückblick einer alten Frau auf ihr missbrauchtes Leben plausibel werden lassen, und die Stimme Gudrun Ritters wird mit dem Text sozusagen identisch. Auf den Plätzen 2 und 3 landeten das Transhumanismus-Stück „Pig Boy (1986-2358)“ von Gwendolin Soublin (France Culture) und die Psychoanalyse-Satire „La dernière séance“ von Benjamin Abitan (Arte Radio).
Sexpositives
Den Preis für die beste europäische Hörspielserie bekam ein Stück, das ein prinzipiell positives Verhältnis zum Sex hat. In der sechsteiligen Reihe „Les chemins de désir“, die Claire Richard für Arte Radio gemacht hat (Regie: Sabine Zovighian), geht es um die Beschreibung der pornografischen Sozialisation einer feministischen Ich-Erzählerin, gesprochen von der Autorin selbst. Es beginnt mit der Entdeckung erster erotischer Comics im Regal ihrer Großmutter und geht hin bis zu den Pornoseiten im Internet.
Mit „chemins de désir“ werden im Französischen die Wege bezeichnet, die man geht, obwohl sie von Architekten und Stadtplanern nicht vorgesehen waren. Auf Deutsch heißen diese Wunschwege „Trampelpfade“. Krasser kann man die deutsch-französischen Differenzen in Sachen Sex kaum auf den Punkt bringen. Auf Platz 2 kam in der Serien-Kategorie die fünfteilige BBC-Produktion „Life Lines“ von Al Smith, die in einer Notrufzentrale spielt, und auf Rang 3 eine Liebesgeschichte zwischen Computergames und Krankenbett: „SOL“, ein Vierteiler von Hilmir Jensson und Tryggvi Gunnarsson für den isländischen Rundfunk RÚV.
Wahre Klischees
In einer der täglichen Jury-Diskussionen zeigte sich ein Teilnehmer aus Norwegen davon genervt, dass seine Stücke immer für das Sounddesign gelobt würden und die Stücke der BBC immer für ihr Storytelling und die Figurenzeichnung, obwohl man jedes Jahr mit anderen Stücken und Autoren zum Wettbewerb komme. Die Beobachtung ist zweifellos richtig, hat ihre Ursache aber darin, dass die Einreichungen sich Jahr für Jahr bemühen, genau diesem Klischee zu entsprechen.
Dass man auch gegen das eigene Klischee inszenieren kann, bewies der Schweizer Rundfunk SRF, der ein Stück von der in Radiodingen noch nicht so erfahrenen Theatertruppe „Digitalbühne Zürich (400asa)“ ins Rennen geschickt hatte: „Lukullus“ nach dem Hörspiel „Das Verhör des Lukullus“ von Bertolt Brecht und Paul Dessau, das 1940 beim Schweizer Sender Beromünster seine Uraufführung erlebt hatte. Das Stück hat eine turbulente Aufführungsgeschichte, die von den Machern Samuel Schwarz, Ted Gaier und Raphael Urweider noch um allerlei feministische und postkoloniale Diskurse angereichert wurde. Natürlich war das alles zu viel, zu roh, zu dringlich – und gerade deswegen ein erfrischender Ausgleich zu den vielen glattpolierten Produkten, denen man anmerkte, dass sie Produkte einer gut geölten Hörspielmaschinerie sind. Eine Schaufel Sand in diesem Getriebe hätte auch anderen eingereichten Stücken gut getan, nicht nur denen aus Norwegen oder Großbritannien.
Abgesehen von ein paar Zweit- und Drittplatzierungen gingen die deutschen Beiträge diesmal in allen 16 Kategorien des trimedialen Prix-Europa-Wettbewerbs (Fernsehen, Radio, Internet) leer aus – bis auf einen: „Helena“, die Abschlussarbeit von Elena Zieser am Lehrstuhl für Experimentelles Radio an der Bauhaus-Universität Weimar, wurde mit dem erstmals vergebenen Preis „Digital Media Rising Star“ ausgezeichnet. Das knapp einstündige Stück ist, im Gegensatz zu den vielen crossmedialen Projekten in dieser Kategorie, pures Hörspiel, basiert auf den akustischen Traumprotokollen der besten Freundin der Autorin und ist erst nach dem Wettbewerb im Schweizer Programm SRF 2 Kultur urgesendet worden (am 19. Oktober).
Armin Wolf
Mit dem Spezialpreis „Europäischer Journalist des Jahres“ wurde beim Prix Europa 2019 Armin Wolf ausgezeichnet, der Moderator des österreichischen Nachrichtenjournals „Zeit im Bild 2“ („ZiB 2“), das im Fernsehprogramm ORF 2 läuft und auch bei 3sat zu sehen ist. In der Begründung für die Auszeichnung hieß es unter anderem, der ORF-Journalist lasse sich nicht einschüchtern von Drohungen und Kritik, sondern stehe „zu seiner Haltung, Interviewpartner immer auf die gleiche Art und Weise zu befragen“. Die rechtspopulistische Partei FPÖ hatte schon wegen seiner kritischen Fragen an ihre Politiker Wolfs Entlassung gefordert. In Potsdam wurde Armin Wolf mit stehenden Ovationen gefeiert.
Der Preis „Europäischer Journalist des Jahres“ wurde beim Prix Europa zum neunten Mal vergeben. Zu den früheren Preisträgern zählen der türkische Publizist Can Dündar und die deutsche Filmproduzentin Regina Ziegler. Im vorigen Jahr wurde Laurent Richard ausgezeichnet, französischer Investigativ-Journalist und Gründer von Forbidden Stories, einer gemeinnützigen Organisation, die Recherchen und Arbeiten von getöteten Journalisten fortsetzt. Der Prix Europa selbst wurde jetzt zum 33. Mal veranstaltet.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 23/2019
P.S. Der Prix Europa im O-Ton: Klänge, Missbrauch, Pornos und Brecht im DLF.
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