Das Gaslicht des Radios verlischt

Nach 90 Jahren Radio – Das Deutschlandradio schaltet die Mittelwelle ab

Britz Antennen

Sender Britz

Vor genau 90 Jahren, am 29. Oktober 1923, ging der deutsche Unterhaltungsrundfunk auf der Welle 400 auf Sendung. Vom Vox-Haus in der Potsdamer Straße 4 in Berlin nahm mit einer Leistung von 250 Watt und einer Sendeantenne von 30 Metern Länge das erste elektronische Massenmedium seinen Regelbetrieb auf. Die Wellenlänge von 400 Metern entspricht einer Frequenz von 749,5 kHz, auf der das amplituden-modulierte Signal in den Äther geschickt wurde. Damit war die Geschichte des Rundfunks, der seinen Namen buchstäblich von den elektrischen (Knall-)Funken her bezogen hatte, mittels derer schon vor dem Ersten Weltkrieg telegrafiert wurde, in eine neue Phase getreten.Die damals als Bausätze verbreiteten Detektorradios brauchten nicht einmal eine Stromversorgung – die Energie lieferten die elektromagnetischen Wellen des Senders gleich mit. Allerdings war sie so schwach, dass man nur mit Kopfhörern Radio hören konnte. Was man noch brauchte, war eine lange Empfangsantenne, die allerdings im ungünstigsten Fall auch zum Blitzableiter werden konnte. Deshalb der radionotorische Hinweis: „Vergessen Sie nicht, Ihre Antenne zu erden.“ Der große Radiomensch und Hörspieltheoretiker Werner Klippert (geboren am 22. April 1923 und damit ein halbes Jahr älter als das Radio) kennt Detektorempfänger noch aus seiner Kindheit und in seinem Autoradio ist auch heute noch der Deutschlandfunk auf Mittelwelle (MW) fest programmiert – was allerdings weniger mit dem warmen Retroklang zu tun hat als mit der sendetechnisch ungünstigen Topografie seines saarländischen Wohnortes Kleinblittersdorf.

Die Rede Albert Einsteins zur Eröffnung der 7. Deutschen Funkausstellung und Phonoschau 1930 ist ohne das rotierende Schaben des Aufzeichnungsgeräts und das Rauschen der Übertragung kaum denkbar, und der Sound macht einen Teil des Charmes aus, mit dem Einstein die Ingenieursleistung feierte: „Denket auch daran, dass die Techniker es sind, die erst wahre Demokratie möglich machen.“ Außerdem schrieb Einstein dem Radio eine „einzigartige Funktion“ ins Pflichtenheft, nämlich die der Völkerversöhnung: „Bis auf unsere Tage lernten die Völker einander fast ausschließlich durch den verzerrenden Spiegel der eigenen Tagespresse kennen. Der Rundfunk zeigt sie einander in lebendigster Form und in der Hauptsache von der liebenswürdigen Seite.“ Die Hoffnung sollte trügen. Hitlers Minister für Volksaufklärung und Propaganda, Dr. Joseph Goebbels, schaltete den Medienapparat gleich und machte ihn zu einer Maschine des Hasses.

In Rente mit 67

Jenseits des Ausstrahlungsgebiets der großdeutschen Rundfunks sendete das Columbia Broadcasting System (CBS) 1938 – natürlich auch über die Mittelwelle – Archibald MacLeishs Hörspiel „Air Raid – A Verse for Radio“, das den deutschen Luftangriff auf Guernica durch die „Legion Condor“ thematisierte und das eine der Ursachen dafür war, dass das wohl berühmtestes Hörspiel der Radiogeschichte, Orson Welles’ „The War of the Worlds“, seine durchschlagende Wirkung auf ein sensibilisiertes Publikum entfalten konnte. Es waren auch die Amerikaner, die nach dem Zweiten Weltkrieg am 4. September 1946 in Berlin-Britz aus dem Drahtfunk im amerikanischen Sektor (DIAS) den Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) machten. Von einem fahrbaren ehemaligen 20-kW-Militärsender (RIAS-intern „Lilli-Marleen-Sender“ genannt), der bis in die 1980er Jahre hinein funktionstüchtig blieb, wurde die Leistung des Senders Britz kontinuierlich ausgebaut, bis er mit 300 kW der stärkste in Europa war. Das war auch nötig, denn die DDR versuchte bis 1978, den RIAS-Empfang mit Störsendern zu verhindern. Einer steht heute im Treppenhaus des Deutschlandradio-Gebäudes am Hans-Rosenthal-Platz in Berlin.

D-Radio Intendant Willi Steul

Die Bildmedien beobachten die Abschaltung eines akustischen Mediums

Am 4. September 2013, auf den Tag genau 67 Jahre nach Inbetriebnahme, hat das Deutschlandradio den Sender Britz nun endgültig in Rente geschickt. Deutschlandradio-Intendant Willi Steul drückte um 11.38 Uhr mitten hinein Gregor Ziolkowskis Rezension des Romans „Die Akimuden“ von Viktor Jerofejew den roten Not-Aus-Knopf und auf der Frequenz 990 kHz war Stille im Äther. Ohne Verabschiedung der Hörer, einfach so.

Wenigstens im Sendegebäude am Britzer Damm 176 schrillte nach dem unmotivierten Countdown die Alarmklingel los und beklagte das Ende einer Radio-Ära. Nachdem zuvor schon die Kurzwelle (KW), die Ultrakurzwelle (UKW), die digitale Ausstrahlung (DAB) und die digitale Mittelwelle (DRM) in Britz abgeschaltet worden waren, ist der Sender – und das sehen die ehemaligen Mitarbeiter mit einer gewissen Wehmut – jetzt völlig stromlos.

 

Sender Britz

Antennenhaus. Hier wurden die Ultrakurz-, Kurz-, Mittel- und Langwellen erzeugt.

Geht man durch die paar Baracken, die ausreichten, um mit nur zwei Mann Besatzung den gesamten deutschsprachigen Raum mit Radioprogrammen zu versorgen, so teilt sich der geniale Low-Tech-Charme der analogen Sendetechnik unmittelbar mit. An einer Metallsäule konnte man von Hand die UKW-Frequenz einstellen. Magisch glimmende Verstärkerröhren und große freiliegende Spulen, an denen man mit wuchtigen Drehrädern die Antennenabstimmung verändern konnte, sind ein Traum für jeden Elektronikbastler und wären eigentlich der würdige Ort für ein Radiomuseum. Die Sendetechnik ist simpel und effektiv wie die Gaslaternen, die es noch in vielen Berliner Straßen gibt.

 

 

 

KW Senderöhre

KW-Senderöhren

Doch anders als für die umweltschädliche, durch marode Leitungen stadtgasbefeuerte Beleuchtungstechnik gibt es keine Bürgerinitiativen zur Erhaltung der Mittelwelle. Die ist sozusagen das Gaslicht des Radios: einfach, effektiv, aber leider nicht effizient. Auf 12 Millionen Euro Energiekosten pro Jahr bezifferte Intendant Willi Steul die Ausstrahlung der Deutschlandradio-Programme über Mittel- und Langwelle. Eine flächendeckende DAB-plus-Versorgung koste nur ein Zwanzigstel dieser Summe und würde dem Programm Deutschlandradio Kultur endlich die technische Reichweite bescheren, die es als bundesweites Hörfunkprogramm braucht.

In Britz hat das Deutschlandradio nun seinen leistungsstärksten Mittelwellen-Sender stillgelegt. Der Betrieb der anderen MW-Stationen wird ebenfalls bald eingestellt. Die Abschaltung der Mittelwelle beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist eine Auflage der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF), der die meisten anderen Sender schon lautlos nachgekommen sind, zuletzt der Mitteldeutsche Rundfunk, der am 30. April diesem Jahres die Mittelwellen-Ausstrahlung von MDR Info beendet hat.

 

Sender Britz Antennenhaus. Foto: Deutschlandradio

Sender Britz, Antennenhaus, innen.

Nur noch der Westdeutsche Rundfunk überträgt sein Programm WDR 2 und in den Hauptverkehrszeiten den Verkehrsfunksender VeRa über Mittelwelle. Der Norddeutsche Rundfunk betreibt sie noch für NDR Info Spezial für Sondersendungen und Ausländerprogramme, beim Bayerischen Rundfunk (BR) wird die Schlager- und Volksmusikwelle Bayern plus über vier Mittelwellen-Sender abgestrahlt. Und der Saarländische Rundfunk (SR) sendet mit Antenne Saar ein deutsch-französisches Info-Programm. Der Auslandsrundfunk Deutsche Welle (DW) überträgt schon seit dem 30. Oktober 2011 überhaupt kein deutschsprachiges Radioprogramm mehr, weder über Kurzwelle noch über Satellit noch als Livestream. Die Mittelwelle hatte sie nur temporär auf angemieteten Sendern genutzt.

 

 

Sender Britz Modulator. Foto: Deutschlandradio

Sender Britz, Modulator.

Um im cleanen digitalen Zeitalter Radio noch wie Radio klingen zu lassen, muss man das atmosphärische Rauschen dazumischen. Die Mittelwelle als Mittelwelle hat man zum letzten Mal 1977 prominent im Radio gehört, als Klaus Schöning in der deutschen Fassung von Orson Welles’ Halloween-Scherz den „Krieg der Welten“ zu einem akustischen Palimpsest machte, in dem unter der Ultrakurzwelle die Mittelwelle durchschien, Amplituden- auf Frequenzmodulation traf und nicht zuletzt sich deutsche auf englische Sprache überlagerte. Die Frage, die sich ein Überlebender der Marsianer-Invasion stellte – „2X2L calling CQ. New York. Isn’t there anyone on the air? Isn’t there anyone on the air? Isn’t there anyone …?“ – muss heute mit Nein beantwortet werden. Auf dem analogen Mittelwellen-Band zwischen 526,5 und 1606,5 kHz ist bald niemand mehr.

 

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 43/2013

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