Das Abbild des Körpers in der Verletzung
Albrecht Kunze: Das unsichtbare Dritte
SWR 2, Do 17.12.2020, 23.03 bis 23.57 Uhr
Kaum jemand hat so intensiv über den Körper im Raum, deren Begrenzungen und über das Verhältnis von innen und außen nachgedacht wie der Hörspielmacher und Musiker Albrecht Kunze. In seinem Hörstück „Niemand kommt hier lebend wieder raus“ hat er sich 2011 explizit mit Körpern beschäftigt, die einem äußeren Druck ausgesetzt sind. Thema und Hintergrund war das Desaster der Loveparade in Duisburg 2010, bei der 21 Menschen ums Leben kamen, weil die Veranstalter das Verhältnis von Räumen und Körpern nicht verstanden hatten. In einem anderen Hörspiel hatte Kunze den Raum auf einen einzigen Punkt konzentriert. Einen Punkt zudem, dessen Sicherheit ausschließlich in der Schwerkraft bestand. Der Titel dieses Hörspiels war „ich auf der Tretmine“ (WDR 2002).
In seinen neuen Stück „Das unsichtbare Dritte“ geht es wieder um Körper, genauer: um einen einzigen Körper in einem dunklen Raum. Einen Raum, in dem sich die namenlose Hauptfigur, gesprochen von Marie Löcker, zwecks Selbstvergewisserung zurückgezogen hat. Dazu gehört, die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen, denn „es muss kein Fehler sein, mit dem Selbstverständlichen anzufangen, auch: weil das Selbst ja weit weniger verständig ist, als man im Allgemeinen glauben oder wahrhaben will“.
Die Situation des eingeschlossenen Ichs ist dramatisch. „Alles beginnt mit Verletzungen, die ich unmöglich mir selbst zugefügt haben kann, […] da sie an Stellen sind, die ich unmöglich selber erreichen kann“, diagnostiziert die Sprecherin mit größtmöglicher Distanz zu sich selbst. Genau beschreibt sie die Verletzungen, die sie bemerkt, weil ihre Kleidung an einigen Stellen klebrig und feucht ist. „Ich beschließe, mich zurückzuziehen – mich dorthin zurückzuziehen – wo niemand außer mir selbst da ist – und: eine Methode zu entwickeln, oder: eine Möglichkeit zu finden, mit der ich das Vorhandensein dieser Verletzungen bestätigen kann.“ Denn der Körper ist an all den Stellen, auf die man keine direkte Sicht hat, prinzipiell verdächtig.
Das radikale Von-sich-Absehen im Auf-sich-Hinsehen will heißen: In der Kühle der Beobachtung ist kein Platz für das Pathos des Schmerzes. Albrecht Kunze bedient nicht die heroischen Diskurse des Körpers, die im Schmerz der Selbstaufopferung eine Legitimationsgrundlage für beliebige Grausamkeiten und die Produktion weiterer Opfer sehen. An diesem Punkt der Selbstbeobachtung tritt erstmals in dem 54-minütigen Hörspiel eine zweite Stimme auf, nämlich die von Karolina Seibold. Sie zitiert das Statement, mit dem ein ehemaliger US-Verteidigungsminister einen Angriffskrieg gerechtfertigt hat. Donald Rumsfeld sprach im Februar 2002 auf einer Pressekonferenz von den Sachen, von denen man weiß, dass man sie weiß („known knowns“), und von Sachen, von denen man weiß, dass man sie nicht weiß („unknown knowns“), und von Sachen, von denen man nicht weiß, dass man sie nicht weiß („unknown unknowns“). Ob es letztere gibt, kann man unmöglich wissen.
Die Stimmen von Marie Löcker und Karolina Seibold ähneln einander und die Filterungen, denen Albrecht Kunze sie unterzieht, legen die Vermutung nahe, dass es sich um zwei Instanzen derselben Figur handelt. Weil aber während der Selbstreflexion weitere Verletzungen an unerreichbaren und uneinsehbaren Stellen auftreten, muss es als Verursacher jenes unsichtbare Dritte geben, das dem Hörspiel den Titel gegeben hat, und das bis zum Ende des Stückes unbekannt bleibt.
Als Referenzrahmen für sein Hörspiel diente Albrecht Kunze unter anderem der Body-Horror-Film „The Entity“ (Wikipedia) von Sidney J. Furie aus dem Jahr 1983. Darin wird eine Frau von einem unsichtbaren Wesen vergewaltigt und terrorisiert. Der deutsche Verleih gab dem Film seinerzeit den Untertitel „Es gibt kein Entrinnen vor dem Unsichtbaren, das uns verfolgt“. Und das Unsichtbare ist nicht nur ein beliebtes Thema im Horror-Genre, sondern auch im Hörspiel, bei dem es ja prinzipiell nichts zu sehen gibt. Aber die Konzentration auf ein Sinnesorgan, das nicht nur für das Hören, sondern auch für die Wahrnehmung des Raumes und für den Gleichgewichtssinn zuständig ist und das evolutionsbiologisch außerdem zur Warnung vor Gefahren diente, ist alles andere als ‘einsinnig’.
Der Soundtrack, den der Clubmusiker Kunze seinem neuen Hörspiel gibt, ist weit weniger treibend als in seinen anderen Stücken. Die Pausen sind länger, das Sprechtempo vorsichtiger, tastender. In „Das unsichtbare Dritte“, seinem ersten Hörspiel seit neun Jahren, bespielt Albrecht Kunze eher das Hirn als die Körper seiner Hörer. Erhalten geblieben sind aber jene formelhaften Konstanten wie „Alles beginnt mit…“ oder „Die Sache ist die …“ wie auch das oft abgesetzte und hörbar mit einem Doppelpunkt versehene „und: …“ bzw. das fragende „oder..?“ Nach solchen Signalwörtern weiß man, dass wieder ein komplexer Gedanke folgt, den Kunze so einfach wie möglich formuliert, aber getreu dem Albert Einstein zugeschriebenem Diktum „…eben nicht einfacher“. Als letzte Möglichkeit der Selbstvergewisserung presst die Figur in Kunzes Stück wiederholt ihren versehrten Körper an die Begrenzungen des Raumes und erzeugt damit ein Abbild ihres Körpers in der Verletzung – „ein gleichbleibendes Muster aus immer denselben roten Flecken, Punkten und Linien“ – und der Leerstellen dazwischen. Ist das eine Metapher für Kunstproduktion? Für das nächste Jahr sind jedenfalls weitere Hörstücke von Albrecht Kunze angekündigt, und wenn die ähnlich komplex strukturiert sind, kann man den durch den Rundfunkbeitrag finanzierten Kulturauftrag als abgegolten betrachten.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 26/2020
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