Auge in Auge mit dem Reaktorkern

David Zane Mairowitz: Marlov in Tschernobyl

WDR 3, Freitag, 07.07.2023, 19.04 bis 20.00 Uhr

Seit 1934 ermittelt David Zane Mairowitz‘ Yevgeny Marlov als einziger Privatdetektiv und professioneller Sündenbock in der Sowjetunion – immer gewalttätig und immer mit Rückendeckung von ganz oben. Sein 14. Fall verschlägt ihn in das Städtchen Prypjat in der Ukraine. Es ist der April 1986 – und der Nachbarort erlangt weltweite Bekanntheit.

Er wird zusammengeschlagen und ausgepeitscht, unter Drogen gesetzt und inhaftiert, mit Psychopharmaka traktiert und mit Elektroschocks gefoltert. Yevgeny Marlov genießt so ziemlich alle Annehmlichkeiten des Sowjetsystems, dem er 1934 noch als Geheimpolizist des NKWD diente. Da durfte er als seinen ersten Fall den Mord an dem 1. Parteisekretär Kirow in Leningrad aufklären, beziehungsweise nicht aufklären. Danach wurde er erst einmal für 19 Jahre in ein Arbeitslager gesperrt, bevor er 1953 Stalins Tod aufklären sollte – diesmal jedoch als Privatschnüffler. Im Laufe der Zeit verschwindet Marlov immer mal wieder für ein paar Jahre in irgendwelchen Gefängnissen oder Psychiatrien, bevor er bei historisch relevanten Ereignissen wieder reaktiviert wird.

Mit Yevgeny Marlov hat der vielfach ausgezeichnet Hörspiel- und Feature-Autor David Zane Mairowitz 2006 eine Figur erschaffen, die nicht zufällig an seinen US-amerikanischen „partner in crime“ Philip Marlowe erinnert. Doch die Brutalität der sowjetrussischen Variante des Hardboiled-Detective schlägt die amerikanische Vorlage um Längen. Denn zwischen dem Amerika Raymond Chandlers und der Sowjetunion von David Zane Mairowitz liegen nicht nur ein paar Längengrade und zwei unterschiedliche Systeme, sondern auch zwei unterschiedliche Kulturen der Gewalt. Deren Realität wird gegenwärtig von den Schriftstellern Viktor Jerofejew oder Vladimir Sorokin beschrieben.

Zwischen Marlowe und Marlov liegen aber auch die ästhetisierenden Inszenierungen der Gewalt von Quentin Tarantino. Und auch WDR-Regisseur Jörg Schlüter inszeniert die Sadismen, denen sich Marlov ausgesetzt sieht und die er auch selbst zelebriert, in comic-hafter Rücksichtslosigkeit. Das ist nicht immer komisch, selbst wenn Marlov einen Spruch nach dem andern heraushaut, wie es das Genre verlangt. Mit der rauen Stimme von Udo Schenk ist Yevgeny Marlov dabei bestens besetzt.

Im seinem aktuellen Fall, dem 14., wird Marlov von Michail Gorbatschow persönlich beauftragt, den mysteriösen Tod von neun Bergsteigern durch eine Lawine in der Nähe der ukrainischen Kleinstadt Prypjat zu untersuchen. Aber wie eigentlich immer in den Marlov-Krimis geht es nicht darum, einen Sachverhalt aufzuklären, sondern entweder darum, ihn zu vertuschen, Druck auszuüben, Intrigen zu befördern, Morde zu begehen, oder einen Sündenbock zu finden – wenn Marlov nicht schon selbst für die Rolle ausersehen ist.

Natürlich wird er auch aus dem aktuellen Fall nicht heil herauskommen. Doch dieses Mal hat die Katastrophe eine andere Dimension. Denn ein brennender Stern namens „Wermut“ ist auf die Erde gestürzt und hat ein Drittel des Wassers in bitteren Absinth verwandelt, so dass viele Menschen an dem Bitterwasser starben – so heißt es jedenfalls in der Offenbarung des Johannes. Dass der örtliche Wermutstrauch, der nach diesem Stern benannt wurde, auch dem Nachbarort von Prypjat den Namen gab, ist in der Literatur schon häufiger thematisiert worden. Auf Ukrainisch heißt er „Tschernobyl“, und natürlich lässt sich auch David Zane Mairowitz diese Metapher für die Atomkatastrophe vom 26. April 1986 nicht entgehen.

Mit Atomunfällen hat Marlov so seine Erfahrungen, er war schon 1957 zusammen mit der Nuklearingenieurin Angelina Luibova Guskova (Ulrike Krumbiegel) in Osjorsk in der Oblast Tscheljabinsk dabei, als es galt, die dortige Atomkatastrophe zu vertuschen. Diesmal will Marlov aber nicht mitmachen. Er leide an einem seltenen „Gewissenssodbrennen“, das bei jedem Rülpser ein Geräusch macht, das wie „Osjorsk“ klingt.

Nachdem „der legendäre Marlov“ im Verlauf des Stücks von den unterschiedlichsten Agenten der Sicherheitsbehörden schon ordentlich Prügel bezogen und auch selbst ausgeteilt hat, findet er sich ob dieser angekündigten Insubordination Auge in Auge mit dem explodierten Reaktorkern von Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl wieder. Darauf, wie und ob der das überleben wird, darf man gespannt sein.

Auch in der neuesten Folge „Marlov in Tschernobyl“ hört man David Zane Mairowitz noch die Freude am Sprücheklopfen an. Probleme im Plot werden nicht auf-, sondern durch den Schnitt gelöst. Die Frauenfiguren oszillieren genre-üblich zwischen Damsel in Distress (Jungfrau in Nöten) und Domina. Das Arsenal an Nebenfiguren kann es fast mit 1950er-Jahre-Krimis eines Francis Durbridge aufnehmen. Man darf vermuten, dass die Marlov-Reihe für David Zane Mairowitz, der seit 1986 Radiofeatures und Hörspiele schreibt, die Miete zahlt. Wie viele Sendeplätze es für seine anderen Stücke noch geben wird, ist angesichts der gegenwärtigen „Reformbemühungen“ der ARD ungewiss. Und wer will schon wohnen wie Marlov.

Jochen Meißner ­– KNA Mediendienst 13.07.2023

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