Aufdeckung und Verdeckung
Eran Schaerf: Ich hatte das Radio an
Bayern 2, Fr 07.04.2017, 21.05 bis 21.36 Uhr
Als Präsidentenberaterin Kellyanne Conway am 21. Januar 2017, dem Tag nach der Inauguration des neuen US-Präsidenten Donald Trump, eine besonders dreiste, weil leicht zu widerlegende Aussage von Trumps Pressesprechers Sean Spicer zu einem „alternative fact“ erklärte, war ein Phänomen in der Realität angekommen, das 15 Jahre zuvor schon Eran Schaerf in seinem Hörspiel „Die Stimme des Hörers“ (vgl. FK-Heft Nr. 15/02) beschrieben hatte. Dort sorgte nämlich die Software eines Talkradiosenders dafür, dass Daten wie etwa die Namen von Personen, Orten und Kriegen bisweilen durch „Alternativen“ ersetzt werden.
Kaum jemand denkt genauer über das Radio und dessen mediale Verfasstheit nach als Eran Schaerf. Sein neues Stück „Ich hatte das Radio an“ war als Hörspielinstallation schon Teil der im Kunstmuseum Stuttgart präsentierten Ausstellung „[Un]erwartet. Die Kunst des Zufalls“, bevor es nun beim Bayerischen Rundfunk (BR) im linearen Radio auf Sendung ging. Der Hörspieltitel geht auf ein Bonmot von Marilyn Monroe zurück, die die Frage eines Reporters, ob sie beim Fotoshooting zu einem Kalender nackt gewesen sei, verneinte, indem sie sagte: „It’s not true I had nothing on, I had the radio on.“ Diese gewitzte Anzüglichkeit wird in Eran Schaerfs Stück unter der Überschrift „Radio hat Deckkraft“ vermeldet. Doch sofort schaltet Schaerf von dem müden Wortwitz zum Begriff „Coverage“ um, der im Englischen sowohl „Deckung“, „Bedeckung“, „Abdeckung“ als auch „Berichterstattung“ („news coverage“) bedeuten kann. Was nachrichtlich aufgedeckt wird, verdeckt etwas anderes. Das sei die medientheoretische Pointe von Marilyn Monroes One-Liner, so Schaerf.
It’s not true that I had nothing on, I had the radio on. #MarilynMonroe pic.twitter.com/LBPTNUT5U3
— Marilyn Monroe (@MarilynMonroe) April 10, 2015
Das 31-minütige Hörspiel „Ich hatte das Radio an“ ist ein Mitschnitt des Programms eines fiktiven Radiosenders irgendwann im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Im Zuge der Neuaufteilung von Europas Äther in Sprachzonen im Jahr 2020 haben sich die deutschsprachigen Rundfunkanstalten zu einem Supersender zusammengeschlossen. Zu hören ist nur die Stimme des für einen streikenden Kollegen eingesprungen „Notdienstsprechers“ Peter Esterhazy (gesprochen von BR-Moderator Tim Heller). Die Nachrichten des Senders kommen aus einem Pool, der von einer Software gesteuert wird, die die Aufgaben der Nachrichtenredaktion übernehmen soll. In Zeiten des „Transparenzstaates“ – worunter man sich wohl einen Überwachungsstaat, der mit den Mitteln der Big-Data-Analyse arbeitet, vorstellen kann – werden die Nachrichten „zufallsautomatisch“ an die Hörer verteilt. Aktualität spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.
In der Tat funktioniert Schaerfs Stück genau nach den Prämissen, nach denen er das Programm des fiktiven Supersenders gestaltet hat. Die Hörer seines Hörspiels bekommen Nachrichten, die sie interessieren könnten. Zum Beispiel eine Meldung über den Versuch des baden-württembergischen Kultusministers, das von Peter O. Chotjewitz stammende Hörspiel „Die Falle oder Die Studenten sind nicht an allem Schuld“ (vgl. FK 6/69) verbieten zu lassen, weil der Minister es für einen authentischen Aufruf zur Revolte hielt. Wie die Zeit dokumentierte wurde dieser Verbotsversuch wurde 1969 wirklich unternommen, auch wenn die Ereignisse, um die es in dem Chotjewitz-Stück ging, schon ein Jahr zurücklagen.
Natürlich darf in den Nachrichten auch der Hinweis auf Brechts Umbenennung seiner radiophonen Kantate „Der Lindberghflug“ in „Der Ozeanflug“ nicht fehlen, als publik geworden war, das Charles Lindbergh ein Sympathisant der Nazis war – ein Paradebeispiel für Coverage als Invisibilisierung. Orson Welles’ Medienfiktion „The War of the Worlds“ von 1938 muss natürlich auch vorkommen, weil es, wie es im Hörspiel heißt, „ein Format, um Massenverhalten unter Kriegsbedingungen zu testen“, gewesen sei. Und eine Referenz zu seinem eigenen Stück „Nichts wie Jetzt“ (vgl. FK-Heft 11-12/09) hat Schaerf auch noch eingebaut.
Wie so oft veschmilzt Eran Schaerf auch in seinem aktuellen Hörspiel die Gegenstands- und Metaebene. So sind seine medientheoretischen Reflexionen nichts Aufgesetztes, nichts, das einer abstrakten Fachterminologie bedürfte, sondern man kann ihnen vor dem Radioapparat folgen, während sie sich vollziehen. These, Argument, Beweis und Beispiel fallen in eins. Das macht dieses neue Hörspiel von Schaerf zu einem sehr reichhaltigen Stück, das in vielen verschiedenen Aspekten anschlussfähig für weitere Diskurse ist. Alles, was es dazu braucht, ist ein bisschen Hintergrundwissen über die Hörspielgeschichte und etwas, was der Radiotheoretiker Rudolf Arnheim schon 1936 „Zuhörkunst“ genannt hat und den Mitvollzug der gedanklichen Form des Kunstwerks meint.
Wenn Eran Schaerf mit seiner Analyse und Fortschreibung der gegenwärtigen Tendenzen hier genauso richtig liegt wie schon bezüglich der alternativen Fakten in seinem preisgekrönten Stück „Die Stimme des Hörers“ (Hörspiel des Jahres 2002), dann dürfen wir uns auf eine Welt einstellen, in der postredaktionelle Supersender Teil einer postfaktischen Medienwelt sind. So richtig viel spricht nicht dagegen – leider. Warum? Weil, wie in Schaerfs neuem Stück zu hören ist, „das Nachrichtenwesen durch die Synchronisierung von Ereignissen und ihrer Bekanntmachung in sozialen Medien ohnehin postredaktionell geworden“ ist.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 9/2017
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