Auf der mentalen Landkarte
Janko Hanushevsky: Being a Story – Von der Kraft des Erzählens
DLF, Fr, 03.11.2023, 20.05 bis 21.00 Uhr.
Man kann kaum ein Feuilleton lesen, ohne auf den Begriff Narrativ zu stoßen, dessen Bedeutung oft unscharf ist. Janko Hanushevsky hat für sein Feature „Being a Story“ zwei gefragt, die sich damit auskennen: Siri Hustvedt und Philipp Blom.
„Wir Menschen bestehen aus Geschichten“, sagt der in Wien lebende Historiker und Schriftsteller Philipp Blom und fährt fort: „Nur weil wir uns in die Welt hineinfantasieren, haben wir morgens den Mut aufzustehen.“ Aus dem fernen New York sekundiert die US-amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt via Zoom: „Selbst auf molekularer Ebene gibt es keine in uns eingeschriebene Originalerinnerung. Erinnerungen werden immer in der Gegenwart zusammengesetzt.“ In Janko Hanushevskys 55-minütigem Feature „Being a Story – Von der Kraft des Erzählens“ geht es also um jenes Immaterielle, das in Überlieferungen tradiert wird und uns zu dem macht, was Samira El Ouassil und Friedemann Karig in ihrem gleichnamigen Buch „erzählende Affen“ genannt haben.
Dass in biologischen Systemen nichts so stabil ist, wie eine in Stein gehauene Inschrift an einem Denkmal, ist eine Binsenweisheit. Alles ist einem stetigen Umbauprozess unterzogen, und warum sollte das nicht auch für die Moleküle gelten, die unsere Erinnerungen speichern und die beim neuerlichen Leseprozess des Erinnerns mit Imaginationen angereichert werden, die auf den Spuren der Erinnerung basieren. Und gleichzeitig gibt es ohne Erinnerungen keine Imagination, fügt Siri Hustvedt hinzu: Sie befähige uns gleichzeitig dazu, uns aufgrund unserer Erfahrungen in die Zukunft zu projizieren.
Die Sache dürfte also komplizierter sein, als es auf den ersten Blick scheint, und hier kommt dann auch der Begriff des „Narrativs“ ins Spiel, der eine verbindende sinnstiftende Erzählung bezeichnet, in der es nicht um das Erzählte selbst geht, sondern um die Form der Darstellung. Diese Form sei dafür entscheidend, wie der erzählte Inhalt verstanden wird und was er beim Zuhörer bewirkt. So wird unterschwellig außerdem definiert, was richtig ist und was nicht, worin der Status quo besteht und worin der Ausnahmezustand.
Zur Konkretion erzählt der Musiker und Radioautor Hanushevsky zwischen den Interviewpassagen die Familiengeschichte seiner ukrainischen Vorfahren. Der Großvater floh im Zweiten Weltkrieg vor Stalin, der Vater wurde in den USA in ein ukrainisch-nationalistisches Milieu geboren, ging nach Österreich und heiratete dort eine Einheimische, was zu Problemen mit seinen Eltern, Hanushevskys Großeltern, führte. Ursache für den Umzug des Vaters nach Österreich war ironischerweise eine andere Art von Erzählung, nämlich der Musikfilm „The Sound of Music“ – „unangenehm sentimentaler Müll“, wie Siri Hustvedt meint.
Für Blom ist eine primäre Antriebskraft des Menschen neben Eros und Thanatos das Bedürfnis nach Sinn; danach, sich als Teil eines sinnvollen Ganzen zu sehen. Weil das aber nicht dem Zustand der Welt entspricht, gibt es Geschichten, Erzählungen, Narrative.
Das Bedürfnis, seine eigene Geschichte zu erzählen, ist die Triebfeder für Hanushevskys Radiostück, dessen ukrainischer Name mit polnischer Endung in anglisierter Schreibweise und österreichischer Aussprache schon eine ganze Geschichte erzählt. Trotzdem klingt Hanushevskys Stück wie aus der Zeit gefallen. Gegenwart ist in ihm nur das Aufblitzen eines Reflexes im Fluss der Geschichte. Die Metapher für sein Weltverhältnis ist der Garten des aufgegebenen Elternhauses nahe der ungarischen Grenze, „ein Gewebe aus Geschichten überwuchert von einer Dornenhecke“.
Musikalisch illustriert wird das Stück mit gezupfter akustischer und elektronischer Gitarre sowie zweistimmig gesungenen Liedern seiner Eltern. Gesprochen wird es vom Autor selbst und seinem Bruder, dem Schauspieler Stefko Hanushevsky. So bleibt das Stück auch formal ganz nahe an der Binnenwelt der Familie.
Natürlich spielt der Überfall Russlands auf die Ukraine eine Rolle, weil sich durch ihn auch das Narrativ wandelt, in dem man bisher gelebt hat. Die Geschichte kehrt in ihrer gewalttätigen Form zurück und die Fragen nach Struktur, Funktion und Substanz von Narrativen, diesen „mentalen Landkarten“ (Philipp Blom), stellt sich neu. Denn bei jeder Landkarte muss man sich fragen, was zu welchem Zweck weggelassen wurde, um die Welt navigierbar zu machen.
Die Welt von Hanushevskys Stück ist eine literarische. Was in ihr weggelassen wird, ist der Angriff des Erzählens auf die Fakten der Welt selbst. Wo alles nur Erzählung ist, alles auch anders sein könnte, erodiert die Basis, auf der man sich über Geschichte verständigen kann, wenn jeder nur seine eigenen Geschichten weitererzählt. Und nicht jeder kann und will das so gut und wahrhaftig wie Janko Hanushevksy mit seinem autofiktionalen Text.
P.S.: Im Hörspiel „Die Wirklichkeit der Landkartenzeichen“ aus dem Jahr 1971 hat der Büchnerpreisträger Jürgen Becker die Abbildung von der Zeit auf den Raum ausprobiert. Wo das Säbelkreuz als Landkartenzeichen auf ein früheres Schlachtfeld verweist, nimmt er jetzt den Geruch einer Kläranlage wahr. Auch der Gestank der Wirklichkeit ließe sich also ins Radio übersetzen.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst 09.11.2023
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