Arthouse-Hörspiel in Cinemascope
Ulf Stolterfoht / Thomas Weber: Der bezaubernde Herr Krähe in: Flügel zu vermieten
SWR 2, Samstag, 18.6.2022, 23.03 bis 0.00 Uhr
Die Hauptfigur im Stück „Rückkehr von Krähe“ von Ulf Stolterfoht macht sich am Ende aus dem Staub. Im neuen Hörspiel des Lyrikers „Der bezaubernde Herr Krähe in: Flügel zu vermieten“ kehrt sie zurück und bewegt sich parodierend durch die Filmgeschichte.
Früher, also Anfang der 1970er-Jahre, als Wolf Wondratscheks Tag mit einer Schusswunde begann, Rolf Dieter Brinkmann die Bosheit der Wörter erkannte und Ted Hughes seine Crow-Gesänge schrieb, da spuckte Krähe Blut, wie so ein tuberkulöser armer Poet – und war dabei ein coolerer Trickster als alle drei zusammen. Krähe, das war die Hauptfigur aus Ulf Stolterfohts Hörspiel „Rückkehr von Krähe“ aus dem Jahr 2021 – eine Type zwischen Beat-Poet und Jesus. Mit Krähe sollte es bald vorbei sein und deshalb suchte er einen Chronisten, der sein Sterben beschreiben sollte. In den drei Teilen „Krähe über Württemberg“, „Aus dem Michigan Trickster-Manuskript“ und „Krähe nach Lukas“ bewegte sich der Protagonist durch zehn Landschaften, bevor er in einem hässlichen Wald verschwand und ihn kein Christenmensch mehr gesehen hat.
Jetzt, ein Jahr später ist Krähe zurück – allerdings in mehr als drei Rollen. Das am 18. Juni auf SWR 2 urgesendete Hörspiel „Der bezaubernde Herr Krähe in: Flügel zu vermieten“ schließt an das Vorgängerstück an. Als Kolkraben-Hybride „Tante Krähe“ wirkt er in über tausend Filmproduktionen mit, zum Beispiel als „Being“ in „Being John Malkovich“. Und wieder ist Ulf Stolterfohts Text so anspielungsreich und überdeterminiert, dass ganze Dechiffriersyndikate ihre Freude daran hätten. Leerlauf gibt es in dem Hörspiel nicht, im Gegenteil, nach 55 Minuten meint man drei Stunden in Cinemascope gehört, ein paar Spritzer Theorie inhaliert und eine verdammt gute Zeit gehabt zu haben.
Wieder ist es Thomas Weber, Gründungsmitglied des Kammerflimmer Kollektiefs, das die Musik zum Hörspiel gemacht hat, der zusammen mit Iris Drögekamp Regie führt. Und wieder sind es Lilith Stangenberg und Sebastian Zimmler, die den Text von Ulf Stolterfoht auf eine Weise erzählen, referieren, performen, dass man sich von seinem Fluss gerne treiben und über seine Stromschnellen tragen lässt. Und wieder ist es die zerbrechliche Stimme von Lilith Stangenberg, die einen in ihren Bann zieht, wenn sie Krähes Schicksalsgesang „Schließ dich den sanften Leuten an“ intoniert.
Ulf Stolterfohts Hörspiel führt Krähe, der seit den 1920er-Jahren beim Kino arbeitet, durch eine Fülle fiktiver Filmplots. Doch seine Tage bei der UFA sind gezählt. Nachdem der Film „Frauen, die man ungern grüßt“ nur noch in Berlin-Lichtenberg gezeigt werden darf, macht er sich mit dem Rohschnitt des Films „Flügel zu vermieten“ nach einem Drehbuch von Billy Wilder nach Hollywood auf, wo er die nächsten Jahrzehnte verbringen wird. Natürlich gibt es Anspielungen auf Wim Wenders‘ „Der Himmel über Berlin“, aber ebenso werden Zombie-, Mafia- oder Russ-Meyer-Filme parodiert. Man hört dem Text die Liebe zum Genre-Kino an, das sich nur aus einer huldigenden Haltung heraus ordentlich parodieren lässt. Denn die Parodie ist ein ernstes Geschäft und wenn die Floskeln nicht sitzen, haut es einen aus der Fiktion wie einen Mafia-Killer aus den Gamaschen.
Stolterfohts Nummernrevue durch die Kinogeschichte wird durch Krähes vier goldene Regeln der Filmkunst oder geldwerte Empfehlungen für junge Schauspieler und Schauspielerinnen ergänzt, die erklären, wie man richtig raucht, tanzt oder eine Pistole hält („immer streng waagerecht“). Doch nicht nur solche Tipps lassen sich aus Stolterfohts Längsschnitt durch die Filmgeschichte destillieren. Unaufdringlich mischt der Lyriker am Ende noch ein paar poetologische Sentenzen über das politische Gedicht in seinen Filmcocktail („Wie dicht ist das denn und wie motherfucking elaboriert?“).
Doch bis es soweit ist und Krähe 1980 in seinem letzten Streifen „Schlachten eines westfälischen Bookies“ auftritt, möchte man das Hörspiel glatt noch einmal zurückspulen wie so eine Videokassette aus den Achtzigern, um die ganzen verpassten Pointen nachzuholen und sich an den vielen Details zu erfreuen, die man beim ersten Hören nur so halb mitbekommen hat.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 21.6.2022
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