An den Rändern des Hörspiels herumstrolchen
Robert Schoen: Entgrenzgänger – eine Rundfunkgroteske
HR 2 Kultur, So 09.02.2020, 14.05 Uhr
Nach einem Bonmot des französischen Naturwissenschaftlers und Vitalisten Louis Pasteur begünstigt der Zufall den vorbereiteten Geist. Auch in den Künsten ist der Zufall oft ein guter Verbündeter und so vertraut sich ihm auch der Autor Robert Schoen für sein neues Hörspiel „Entgrenzgänger“ an. Doch meist reicht ein Verbündeter nicht aus. Es braucht noch einen oder mehrere Förderer. Das kann eine Hörspieldramaturgie sein, wie im Fall Robert Schoens die des Hessischen Rundfunks (HR), oder hier ganz konkret die Robert-Bosch-Stiftung, die immer mal wieder Hörspielprojekte mit Reisestipendien in Osteuropa fördert. Was dies angeht, so handelt Schoens Hörspiel auch von seinem eigenen Entstehen, beginnend mit der Förderantragsstellung.
Gekonnt persifliert Schoen den Jargon der Stiftung, die mit Begriffen wie Volatilität, Komplexität und Ambivalenz operiert, und er setzt noch den Begriff Serendipity oben drauf. Vom zu fördernden Stück stehe bislang nur der Titel fest: „Entgrenzgänger“. Und die Gattung: „Rundfunkgroteske“. In gewisser Weise ist das eine Tautologie, denn die Groteske arbeitet nicht eigentlich mit den Mittel der Grenzüberschreitung, sondern ist wesentlich eine Aufhebung von Grenzen, eine Entgrenzung. Jedoch, so zitiert Schoen, der selbst Regie geführt hat und sich selbst spielt, im Hörspiel seinen Förderantragstext: „Ursprünglich wollte ich es Grenzgänger nennen, um meine Chance auf ein Stipendium zu erhöhen, aber meine Frau sagte, das sei anbiedernde Arschkriecherei.“ So kitzelt das Vulgäre das komische Potenzial aus dem Elaborierten.
Sein Wunschziel hatte Schoen mit seinem designierten Hauptdarsteller Lorenz Eberle zuvor ausgewürfelt: Es ist die zentralrussische Stadt Woronesch geworden, 500 Kilometer südöstlich von Moskau, nahe der ukrainischen Grenze. Stalin hatte den Dichter Ossip Mandelstam dorthin verbannt. Und weil Robert Schoen auch ästhetisch auf die glücklichen Zufälle der Serendipität vertraut, also darauf, etwas zu finden, wonach man nicht gesucht hat – er führt hier Beispiele wie den Sekundenkleber oder das Potenzmittel Viagra an –, will der Autor seinen Hörspielgeist dem Zufall anbiedern, um eine Rundfunkgroteske zu synthetisieren, „die an den Rändern des Hörspiels herumstrolcht“. Über das Internet findet er die Freejazz-Band Duso aus Woronesch, deren Gitarrist sich als Fan der Band Cassiber von Heiner Goebbels outet, bei dem Schoen in Gießen studiert hatte. Außerdem findet er Schauspielerinnen und Performer, die seine „radiophonizischsky Groteske“ girren und Märchen singen können. Der Förderantrag wird bewilligt und Schoen fährt zu Aufnahmen für eine Woche nach Woronesch.
Einer, der auch an den Rändern des Hörspiels herumgestrolcht ist und sozusagen der Hausheilige der Entgrenzgänger ist, ist nicht etwa der heilige Mitrofan von Woronesch, sondern der 2016 verstorbene Paul Wühr, ein Pionier des O-Ton-Hörspiels und großer Verfechter des Falschen im Richtigen: „Das Falsche gehört in das Richtige hinein, damit das Richtige überhaupt erträglich bleibt“, hört man Wührs Stimme. Ihm ging es, genau wie Schoen heute, nicht um die Linearität einer Geschichte, sondern um „Drehs“, genauer: „Um das Drehen einer Figuration. Es wird eine Figuration, eine Konstellation hergestellt und dann wird an dieser Situation gedreht, bis …“ Ja, bis wohin? Hier bricht der O-Ton ab. Es sind diese Unvollständigkeiten in Robert Schoens Hörspiel, die Lücken und Leerstellen, die den Reiz ausmachen. Denn auch ohne dass man sämtliche Anspielungen kennen oder verstehen muss, versucht man mitvollziehend Anschlüsse, Antworten und neue Figurationen zu finden.
Das gefällt nicht jedem, beispielsweise nicht dem Intendanten, der, gespielt von Lorenz Eberle, gegen Ende des Stücks vorbeischaut und mäkelt: „Das ist ein Sammelsurium an vielen Einzelgedanken. Aber ich kann die Struktur nicht ausmachen. Das kann nicht eine permanente Methode sein, die Spannungsbögen zu zerschmettern. Man muss ja auch mal an den Hörer denken.“ Selbstironie kann Robert Schoen. „Umwege sind nötig, ein Vergessen des Zusammenhangs“, zitiert er einen programmatischen Satz seines Lehrers Heiner Goebbels und verweist auf die Hörer, „die für ihren Beitrag mehr erwarten als das, was wir ständig hören“.
Unter der unterhaltsamen Oberfläche seines 70-minütigen Stücks geht es Robert Schoen darum, was das Hörspiel kann, wenn es sich als freie Form versteht, in der alles möglich ist und in der man sich locker von den vorgeblichen Formatzwängen oder von vermuteten Hörererwartungen befreien kann. Schon Hans Fleschs aus dem Jahr 1924 stammendes Stück „Zauberei auf dem Sender“, das als erstes deutsches Hörspiel überhaupt gilt, trug den Untertitel „Versuch einer Senderspielgroteske“ und erforschte gleich zu Beginn sämtliche Möglichkeiten des Hörspieluniversums. Das Groteske ist begrifflich das Abweichende, Anomale, das sich über Regeln Hinwegsetzende, nicht unbedingt das Schockhafte, das häufig mit ihr assoziiert wird. Zugleich ist die Groteske aber eine manieristische Ornamentform, verwandt mit der Arabeske. Und zwischen diesen beiden Polen oszilliert auch Robert Schoens neues Hörspiel.
Und wer bei Hörspiel noch an „Kino im Kopf“ denkt, wird in dem Stück übrigens mittels eines Schwerthiebs gleichsam akustisch enthauptet und geht somit des Körperteils verlustig, das die schönste Metapher in Schoens Hörspiel liefert. Sie stammt aus dem russischen Märchen von Kroshechka Chavroshechka, einer drangsalierten Magd, der eine Kuh ihre Arbeit auf besondere Art und Weise abnimmt: „Schlüpf mir zum rechten Ohr herein und zum linken wieder heraus, dann brauchst du nichts mehr tun, alles wird sich von allein tun.“ So funktioniert auch dieses Hörspiel, denn falls man keinen Hohlraum zwischen den Ohren hat, entwickelt sich der ästhetische Genuss von ganz allein – und auch das das Denken funktioniert gleich viel besser.
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