Akustische Gesimse
Knapp 120 Jahre nach Adolf Loos’ berühmtem Vortrag „Ornament und Verbrechen“ begibt sich Feature-Autor Christoph Spittler auf eine Besichtigungstour durch die Architektur der Gegenwart und stößt dabei unter anderem auf Kulturkämpfe.
Christoph Spittler: Ornament – kein Verbrechen? Eine Architekturrebellion gegen den Modernismus
DLF Kultur, 05.08.2025, 20.05 bis 21.00 Uhr
Wenn es um die unmittelbaren Lebenswelten geht, dann kochen die Emotionen schon mal hoch. Radioautor Christoph Spittler stellt sich in seinem 55-minütigen Architekturfeature die Frage „Ornament – kein Verbrechen?“ und reagiert damit auf den berühmten Vortrag „Ornament und Verbrechen“ des Wiener Architekten und Architekturkritikers Adolf Loos (1870-1933) aus dem Jahr 1908.
Loos polemisierte darin gegen alles Ornamentale, nicht nur in der Architektur: „Der Drang sein Gesicht und alles, was einem erreichbar ist, zu ornamentieren, ist der Uranfang der bildenden Kunst. Es ist das Lallen der Malerei.“ Stattdessen plädierte er für eine „Evolution der Kultur“, die gleichbedeutend mit dem Entfernen des Ornaments aus dem Gebrauchsgegenstand sei: „Ornamentlosigkeit ist ein Zeichen geistiger Kraft“, zitiert Christoph Spittler Loos.
Flachdachbetonklotzquaderverschandelungen
Natürlich konnten Bauhaus-Architekten wie Mies van der Rohe und Le Corbusier an Loos anknüpfen, doch die Bauten ihrer Epigonen rufen ähnlich polemische Reaktionen hervor, wie sie Loos seinen Gegnern vor den Latz knallte. In Spittlers Radiofeature werden sie immer wieder eingestreut. Der schönste Wutausbruch kulminiert in dem Kompositum: „Flachdachbetonklotzquaderverschandelungen“. Quellen dieser und ähnlicher Angriffe finden sich in den sozialen Netzwerken, vor allem in dem von Michael Diamant aus Schweden gegründeten losen Netzwerk „Architectural Uprising“, das in Deutschland in der Facebook-Gruppe „Architektur Rebellion“ organisiert ist.
In insgesamt zehn „Besichtigungen“ bewegt sich Christoph Spittlers Feature Idurch gegenwärtige Bauwelten. Dabei hat er mit dem Architekten Robert Patzschke gesprochen, dessen Büro unter anderem für den Neubau des Berliner Hotel Adlon verantwortlich war. Patzschke bevorzugt Gesimse, Rundbögen sowie holzvertäfelte Treppenhäuser mit Kronleuchtern. „Das ist natürlich kein sozialer Wohnungsbau“, sagt er. Aber Details von strukturierten -Fassaden seien halt angenehmer für das Auge als uniforme Glätte.
Den Gegenpol bilden das Künstlerpaar Michaela Melián und Thomas Meinecke, die sowohl in einem ehemaligen Bauernhaus aus dem Jahr 1820 als auch in einem Le-Corbusier-Neubau wohnen. Als Vertreter der Generation Anti-Hippie haben sie Anonymität und Künstlichkeit gefeiert, weshalb ihnen „das Dissen des Brutalismus“ gehörig auf den Geist geht. Mit dem historisierenden neuen Stadtschloss in Berlin oder der neuen, auf alt getrimmten Altstadt in Frankfurt am Main können sie so gar nichts anfangen.
Retrospektives Bauen
Dabei bekommen sie Unterstützung von der Architekturhistorikerin Verena Hartbaum, die die aktuellen Diskussionen einordnet. Das ehemals linke Projekt des Milieuschutzes durch die Hausbesetzerbewegungen der 1970er- und 1980er Jahre, als flächendeckend Altbauten abgerissen und Fassaden abgeschlagen wurden, sei im Zuge der Postmoderne auf das Formale reduziert worden, während die soziale Idee dahinter verloren gegangen sei.Die gegenwärtige Wende zum „retrospektiven Bauen“ und ihre Simulation des Alten, suggeriert Dauerhaftigkeit, Haltbarkeit und Wertigkeit, sei dabei aber immer nur kompatibel mit dem Luxussegment, diagnostiziert Hartbaum.
Das scheint ein weltweiter Trend zu sein, wie Thomas Meinecke berichtet. Er habe sowohl in China Viertel gesehen, die wie Weilheim anmuten, sei in Moskau über zinnenbewehrte Oligarchen-Stadtteile geflogen und habe auch im texanischen Austin historisierende Retortensiedlungen gesehen. Demgegenüber erscheint ihm Le Corbusiers Hochhausriegel „Cité radieuse“ in Marseille fast als ein Ort dörflicher Utopie, in dem Nachbarschaftsgemeinschaften Kunstausstellungen organisieren und „Urban Gardening“ praktizieren.
Akustische Graffitis
Aber natürlich gibt es auch in gegenwärtigen Neubauvierteln, wie der „Europa-City“ an der Heidestraße nördlich des Berliner Hauptbahnhofs, moderne Architektur. Der sieht man allerdings an, dass sich hier jeder Quadratmeter rentieren muss – „tasteless housing for tasteless people“. Dennoch erfährt man in Christoph Spittlers Feature, dass alle Seiten gute Argumente haben. Diese werden jedoch entwertet, wenn sie nur als Munition in einem Kulturkampf verwendet werden, in dem es um etwas ganz anderes geht, als um ein gutes Leben in einer guten Umgebung. Denn es ist ein Irrtum zu glauben, dass diese Diskussionen unpolitisch wären, auch wenn dies von den Vertretern der rechtskonservativen „Architekturrebellen“ gerne behauptet wird.
Unter der Regie von Claudia Kattanek entwickelt Christoph Spittlers Feature seine Dynamik unter anderem aus den Gesimsen der zehn Besichtigungen, an denen das Ohr entlanghangeln kann. Refrainartig eingesetzte Motive der Wimmelbilder aus Jörg Müllers Kinderbuch „Hier fällt ein Haus, dort steht ein Kran und ewig droht der Baggerzahn“ aus dem Jahr 1976 lassen Architekturkritik als Gesellschaftskritik noch einmal aufleben, während die akustischen Graffitis des vulgären Modernismus-Bashings zusätzliche Farbe ins Stück bringen. Nach diesem Rundgang durch gegenwärtige Bauwelten ist man um einige Eindrücke und Erkenntnisse reicher.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 07.08.2025

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