Die drei Finalisten des 69. Hörspielpreis der Kriegsblinden 2020
Die drei Finalisten des 69. Hörspielpreises der Kriegsblinden sind:
„AUDIO.SPACE.MACHINE“ von wittmann/zeitbom (DLF)
Die Jurybegründung:
In besonders geglückten Momenten überschreitet das Hörspiel die Grenzen von Körper, Raum und Zeit. Dann zieht es sein Publikum mithilfe von Musik, Geräuschen, von zwingenden Rhythmen und den Timbres der SchauspielerInnen-Stimmen tief in einen unendlichen Erfahrungsraum. In einen, wo Gedanken, Gefühle und Intellekt nicht durch einen Bildschirm begrenzt werden, von dem sie vielleicht ermüdet abgleiten. Lange bevor die Coronakrise solche Ermüdungserscheinungen durch Rezeptionspsychologen erläutern ließ, haben Wittmann/Zeitblom mit ihrer künstlerischen Forschung zur Bauhaus-Bewegung einen lebendigen Radionerv getroffen. Basierend auf gründlichen Recherchen erzählen sie frei von verklärender Nostalgie den komplexen kulturellen Gründungsmythos der Moderne mit den tiefenwirksamen Mitteln des Hörspiels. In immer neuen Perspektiven besuchen sie den Moment der Weichenstellung für das heutige Verhältnis von Mensch und Maschine; für unsere Position im Öffentlichen, für die Rolle von Urbanistik und Design im Allgemeinen. Sie fügen die Konzepte und Glaubenssätze der Bauhäusler zu Dialogen und postumen Telefonkonferenzen und kleben ihnen auch selbstkritische Erkenntnisse ins Album: „Wer möchte schon Hitler auf einem Freischwinger sehen?“ Diese Frage verweist auf die problematische Nähe totaler Gesellschaftspläne zu nationalsozialistischen Vorstellungen. Neben den Theorien der Konkurrenten Johannes Itten und Walter Gropius führt das komische, als „Bauhausfiction“ eingeführte Videospiel „Gropemon“ in unsere Wirklichkeit. Akustisch wir das Konzeptalbum zusammengehalten, vorangetrieben und getragen von Rhythmus und Komposition, die durchgehend als gleichberechtigte Agenten der Analyse fungieren. Mit Humor und ohne in einer allwissenden Belehrungsperspektive zu erstarren, machen die Künstler konsequent erlebbar, wie viel der hochfliegenden Bauhauskonzeption im Heute zu finden ist.
„Audio. Space. Machine“ ist also kein historisches Stück. Es ist brandaktuell: Indem sie den vergangenen Stoff in unsere Zeit fortschreiben, geben Wittmann / Zeitblom uns ein Werkzeug an die Hand, mit dem wir, im Rückblick auf Geschehenes, unsere Zukunftsmöglichkeiten durchdenken können.
„Das Ende von Iflingen“ von Wolfram Lotz (SWR)
Die Jurybegründung:
Apokalyptische Werke der Weltliteratur waren in den letzten Monaten sehr gefragt, denn wenn etwas so Unheimliches wie eine Pandemie um sich greift, wird nach Formen gesucht, um das gewaltig um sich-Greifende zu verstehen. Vorstellungen des Weltuntergangs in übergroßen Gesten scheinen der Menschheit im Moment ihrer existentiellen Bedrohung wenigstens eine Bedeutung zu geben. Umso überraschender ist der Hörspiel-Coup von Wolfram Lotz, der – vor unserer jetzigen Situation produziert – dennoch so gut in die Zeit zu passen scheint. Allerdings setzt das Stück von Anfang an auf eine Bescheidenheit im Ausdruck, die quer zur Tradition des Genres steht, in dem es agiert.Gewissermaßen geduckt aber mit Mordeifer und großem Selbstbewusstsein schnauft sich Erzengel Michael in die erste Szene. Unter dem Flügel hat er den wichtigen Auftrag, das Nest Iflingen auszulöschen: denn angebrochen ist der letzte Tag des Universums, und seine Aufgabe nimmt der Todesengel sehr ernst. Als sein Gehilfe, Engel Ludwig, verspätet und ein wenig ungeschickt mit der Posaune als nötigem Accessoire herbeischeppert, entsteht ein Misston: Letzterer scheint nicht so recht an die Mission zu glauben. Und auch die Zuhörerin wundert sich darüber, dass der Engel mit Namen Ludwig, doch eigentlich ein Heiliger ist und nicht so ganz in diese Rolle gehört. Und so bewegen sich die beiden durch die gewollte Schieflage dieses Stücks: Der Plot, wie die Engel ihn sich denken, gerät ins Wanken durch den Plot, den sich die Dörfler ausgedacht haben. Keiner ist da, wo er oder sie zum Zeitpunkt ihrer Auslöschung hätte sein sollten: Nicht vor dem Fernseher und nicht beim Abendbrot. Und munter oszilliert dieses Endspiel zum Lustspiel und zurück, während die Himmelsboten mit veraltetem Weltbild weiter und weiter durch den Ort stolpern. Einzig die sprechenden Tiere des Dorfes treffen sie an, das Schwein oder den Mauersegler, und die erzählen in fabelhafter Manier vom Leiden der Kreatur. Aus ihren detailgenauen Auftritten lassen sich Rückschlüsse auf die Menschen von Iflingen ziehen.
Versponnen, märchenhaft und denkwürdig konkret in seiner figurativen akustischen Präsenz taucht Das Ende von Iflingen sein Publikum in eine entrückte Wirklichkeit, die ein völlig überraschendes Ende findet.
„Die Entgiftung des Mannes“ von Holger Böhme (MDR)
Die Jurybegründung:
Erst dreißig Jahre ist das her? Irgendwie fühlt es sich doch viel länger an. Oder? 1989, im Demo-Sommer vor der Wende, landeten Steffi und Isabel auf der Flucht vor der Volkspolizei in einen Leipziger Brunnen. Die beiden jungen Frauen blieben unentdeckt, fühlten sich auf ewig verbunden durch ihren gelungenen Coup aber ihre und die Geschichte nahm einen anderen Lauf. Wie in vielen erzählerischen Annäherungen an diese Zeit der deutsch-deutschen Annäherung spielt das Hörstück auch mit persönlichen Erinnerungen der HörerIn an diese Zeit (sofern sie damals dabei war). Aber selten sind die Folgen der verflossenen Zeit wohl so gut ausformuliert und in Dialoge gegossen worden, so witzig in Szenen zusammengedacht und so „liebevoll spöttisch, so schön gesprochen worden“ (eine Jurykollegin) wie in Holger Böhmes Mundart-Komödie. Die Wege der beiden Freundinnen verliefen nach der Brunnenszene sehr unterschiedlich und kreuzen sich nach dreißig Jahren per Zufall wieder. Steffi, auf den ersten Blick ganz passive, brave Ehefrau, gibt bei Isabel, der Indienreisenden und nun scheinbar erfolgreichen Besitzerin einer Werbeagentur, Plakate in Auftrag. Für ihren Mann. „Pegida“-Plakate! Nur die von schönen Szenen belebte alte Verbundenheit hält die Frauen nach dieser Enthüllung zusammen und diese Sympathie bringt sie auf die irrwitzige Idee, den vom Leben enttäuschten Mann zu „entgiften“. Mit sicherem Gespür für Dialekt und Dialoge verfolgt Böhme nun die immer abenteuerlicher sich entwickelnden und verwickelnden Entgiftungsstationen. Er skizziert seine Figuren mit leichter Hand und lässt sie in quirligen Telefonaten, konspirativ mitgelauschten Treffs, in ihrer gesamten verblüffend erfolgreichen, kichernden Intrigen zu wahrer Größe aufleben. All das geschieht mit beachtlichem Verständnis für Gespräche „unter Frauen“ und unter Vermeidung billiger Klischees. So verfolgen wir bis zu seinem überraschenden Ende hin amüsiert und auch nachdenklich ein über das „Boulevard“ weit hinausgehendes radiogenes witziges Bekehrungsstück.
Alle drei Hörspiele sind auf der Website der Film- und Medienstiftung NRW nachhörbar.
Der Gewinner wird am 24. Juni im Rahmen einer Podcastverleihung bekannt gegeben. Ab diesem Jahr gehört der Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) neben der Filmstiftung NRW zu den Ausrichtern des Preises.
Die 15-köpfige Jury unter Vorsitz der Kulturwissenschaftlerin Gaby Hartel hat aus insgesamt 21 Einreichungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ihre Favoriten gewählt.
Die Nominierten
Bayerischer Rundfunk
Das neue Alphabet (zweiteiliges Hörspiel) von Alexander Kluge Regie: Karl Bruckmaier Komposition: Jeb Loy Nichols/Antye Greie/Nicholas Desamory Produktion: BR 2019 Länge: 48’39 (Teil 1) / 52’22 (Teil 2) Sendung: 01.12.2019 / 08.12.2019 | Ante oder der Thunfisch von Joël László Regie: Henri Hüster Produktion: BR 2019 Länge: 68‘46 Sendung: 25.10.2019 |
Hessischer Rundfunk
Jule, Julika, Julischka von Frank Witzel Regie: Leonhard Koppelmann Produktion: hr 2019 Länge: 84‘20 Sendung: 14.07.2019 | Unterland von Björn SC Deigner Regie: Björn SC Deigner Produktion: hr 2019 Länge: 50‘09 Sendung: 18.12.2019 |
Mitteldeutscher Rundfunk
Die Entgiftung des Mannes. Eine Radiokomödie in zehn Szenen von Holger Böhme Regie: Stefan Kanis Produktion: MDR 2019 Länge: 54‘01 Sendung: 04.11.2019 |
Norddeutscher Rundfunk
Peace Island von Rainer Merkel Regie: Detlef Meissner Produktion: NDR 2019 Länge: 54′ Sendung: 19.06.2019 | Ida von Katharina Adler Regie: Iris Drögekamp Produktion: NDR 2019 Länge: 90 Sendung: 18.09.2019 |
Radio Bremen
Das letzte Bier war schlecht (ARD Radio Tatort) von Ben Safier Regie: Janine Lüttmann Produktion: RB 2019 Länge: 53‘30 Sendung: 18.11.2019 | DREISSIG. Eine Suche nach dem Glück von Laura-Nadin Naue und Wolfgang Seesko Regie: Laura-Nadin Naue, Wolfgang Seesko Produktion: RB 2019 Länge: 53‘30 Sendung: 28.04.2019 |
Radio Berlin Brandenburg
Oberwasser von Frank Naumann Regie: Steffen Moratz Produktion: rbb 2019 Länge: 43‘14 Sendung: 30.06.2019 | Reisewut von Bettie I. Alfred Regie: Bettie I. Alfred Produktion: rbb 2019 Länge: 48‘02 Sendung: 29.09.2019 |
Saarländischer Rundfunk
Steve Jobs von Alban Lefranc Regie: Martin Zylka Produktion: SR 2019 Länge: 55´42 Sendung: 25.08.2019 |
Südwestrundfunk
Das Ende von Iflingen von Wolfram Lotz Regie: Leonhard Koppelmann Produktion: SWR 2019 Länge: 68‘09 Sendung: 30.05.2019 | Der Zauberer von Ost von Henning Nass in Zusammenarbeit mit Bernhard Schütz Regie: Henning Nass Produktion: Südwestrundfunk 2019 Länge: 59‘22 Sendung: 08.12.2019 |
Westdeutscher Rundfunk
Guter Rat – Ringen um das Grundgesetz Aus den Protokollen des Parlamentarischen Rates 1948-49 Produktion: WDR/DLF/BR 2019 Teil 1 – „Berufung auf Gott“ von Georg M. Oswald Regie: Annette Kurth, Benjamin Quabeck Länge: 16‘43 Sendung: 22.05.2019 Teil 2 – „Parlament und Volksentscheid“ von Georg M. Oswald Regie: Annette Kurth, Benjamin Quabeck Länge: 28‘07 Sendung: 22.05.2019 Teil 3 – „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ von Trézia Mora Regie: Claudia Johanna Leist Länge: 27´29 Sendung: 23.05.2019 Teil 4 – „Die Rechte unehelicher Kinder“ von Terézia Mora Regie: Claudia Johanna Leist Länge: 27´44 Sendung: 23.05.2019 Teil 5 – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ von Frank Witzel Regie: Thomas Leutzbach Länge: 28´55 Sendung: 24.05.2019 Teil 6 – „Eine Zensur findet nicht statt“ von Frank Witzel Regie: Thomas Leutzbach Länge: 27´25 Sendung: 24.05.2019 Teil 7 – „Deutschland in Europa“ von Özlem Özgül Dündar Regie: Petra Feldhoff, Benjamin Quabeck Länge: 26´43 Sendung: 25.05.2019 Teil 8 – „Das Wahlrecht“ von Özlem Özgül Dündar Regie: Petra Feldhoff, Benjamin Quabeck Länge: 28´19 Sendung: 25.05.2019 | Nichts, was uns passiert von Bettina Wilpert Regie: Susanne Krings Produktion: WDR 2019 Länge: 53´56 Sendung: 15.09.2019 |
Deutschlandfunk / Deutschlandfunk Kultur
AUDIO.SPACE.MACHINE – Ein Bauhaus-Konzeptalbum von wittmann/zeitblom Regie: wittmann/zeitblom Produktion: Dlf/NDR/SWR 2019 in Zusammenarbeit mit der Interactive Media Foundation Länge: ca. 60‘ Sendung: 12.01.2019 | Die Gesänge der Raumfahrer. Ein Fernlehrgang von Patricia Görg Regie: Anouschka Trocker Produktion: DLF Kultur 2019 Länge: 56‘19 Sendung: 17.07.2019 |
Österreichischer Rundfunk
GEH DICHT DICHTIG! Hörspieldialog mit Elfriede Gerstl von Ruth Johanna Benrath Regie: Christine Nagel Produktion: ORF/BR 2019 Länge: 42‘00 Sendung: 07.04.2019 |
Schweizer Radio (SRF)
Rauschunterdrückung. Ein Aufnahmezustand. von Ulrich Bassenge Regie: Ulrich Bassenge Produktion: WDR/SRF 2019 Länge: 53‘26 Sendung: 24.02.2019 | Triptychon eines seltsamen Gefühls von Beatrice Fleischlin Regie: Reto Ott Produktion: SRF 2019 Länge: 80‘06 Sendung: 17.11.2019 |
Die Jury des 69. Hörspielpreises der Kriegsblinden
Blinde Juroren: Paul Baumgartner, Joachim Günzel, Hans-Dieter Hain, Dietrich Plückhahn, Siegfried Saerberg, Dörte Severin, Thade Rosenfeldt
Kulturschaffende: Gaby Hartel (Kulturwissenschaftlerin, Vorsitzende der Jury), Thomas Irmer (Freier Journalist, u.a. Theater der Zeit), Eva-Maria Lenz (Freie Journalistin, FAZ, epd), Doris Plöschberger (Suhrkamp Verlag), Diemut Roether (epd medien), Hans-Ulrich Wagner (Universität Hamburg, Hans Bredow-Institut), Isabel Zürcher (Kritikerin, Lektorin und Publizistin), Jenni Zylka (Journalistin, Autorin und Moderatorin)
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