In der Dickung der Subtexte
Hermann Bohlen: Schweine-Heinz
Deutschlandfunk Kultur, 06.12.2017, 21.30 bis 22.20 Uhr
Am gefährlichsten ist das Über-die-Straße-Laufen. Und direkt danach kommen die Hüte, dann heißt es: ab in die Dickung. Schon nach den ersten Sätzen des Hörspiels „Schweine-Heinz“ von Hermann Bohlen ist klar, dass man es hier nicht mit menschlichen Akteuren zu tun hat, sondern dass man eine Rotte Wildschweine belauscht, in der die Leitbache die Frischlinge belehrt. Die gefährlichen Hüte stehen für das, was von den Jägern sichtbar ist, wenn sie stundenlang auf ihren Ansitzen hocken. Jagd- und Forstwirtschaft waren es denn auch, die den Begriff der „Dickung“ geprägt haben, in die das Schwarzwild ärgerlicherweise immer wieder verschwindet. Das sprachliche Amalgam, in dem Dickicht und Deckung miteinander verschmolzen sind, kennen Bohlen-Fans schon aus seinem Hörspiel „Hirsche rufen Jäger, Jäger Hirsche“ (vgl. FK-Kritik).
Die Titelfigur von Hermann Bohlens neuem Hörspiel „Schweine-Heinz“ ist ein komisches Tier. Meinen jedenfalls die Wildschweine: „Riecht wie ein Mensch und geht auf allen Vieren.“ Reales Vorbild für den von Heiko Pinkowski gespielten Schweine-Heinz war der Elektriker Heinz Meynhardt (1935 bis 1989) aus dem sachsen-anhaltinischen Städtchen Burg, der sich in den siebziger Jahren bemühte, in eine Wildschweinrotte aufgenommen zu werden. Was mit „Ablenkfütterungen“ begann, die die Schweine von den Kartoffeläckern fernhalten sollten, führte nach monatelangem „Futterkontakt“ und jahrelangem „Sozialkontakt“ schließlich dazu, dass er als gleichberechtigtes Rottenmitglied sogar im „Wurfkessel“, dem Wochenbett der Wildschweine, akzeptiert wurde. Schließlich konnte er sogar die Leitbache Flecka (im Hörspiel dargestellt von Brigitte Grothum) von ihrer Position verdrängen.
Am Ende hatte der Schweine-Heinz drei Rotten unter sich, einen Doktortitel der Agrarwissenschaften verliehen bekommen und das DDR-Fernsehen mit diversen Tierfilmen bereichert, darunter der autobiografische Dreiteiler „Heinz Meynhardt – Wildschwein ehrenhalber“. Aus dem Elektriker war ein international renommierter Verhaltensforscher geworden. Er war indes nicht der Erste, der sich in den Sozialverband einer Wildschweinrotte einschleichen konnte. Ende der 1950er Jahre hatte in Westdeutschland Richard Finke sogar zusammen mit Frau und Tochter fünf Jahre lang mit einer Wildschweinrotte zusammengelebt, wofür er vom berühmten Verhaltensforscher Konrad Lorenz zum „Keiler h.c.“ nobilitiert wurde.
Nun wäre, was das Wirken Heinz Meynhardts angeht, die Geschichte an sich auch Stoff genug für ein Feature, doch in der Hörspielform hat sich Hermann Bohlen in die Dickung der Subtexte begeben. Denn natürlich geht es hier nicht nur um das Wildschwein (lateinisch: Sus scrofa) in seiner natürlichen Umgebung. Auch wenn man manches Interessante erfährt, wie etwa, dass eine Rotte sich nicht zusammenrottet, sondern ein lupenreiner und rein weiblicher Familienverband ist. Und dass die Bachen ihre „Rausche“, die Zeit der Paarungsbereitschaft, synchronisieren, was Meynhardt mittels künstlicher Duftstoffe experimentell bewiesen hat.
Allerdings konfligiert das Sozialverhalten in einer sexuell homogenen (weiblichen) Gruppe mit dem Sozialverhalten im ehelichen Leben zwischen Heinz und seiner Frau (Steffi Kühnert) – schon wegen seines Geruchs, der für beide Spezies nicht wirklich angenehm ist. Das birgt natürlich Stoff für Komik, die allerdings nie krachledern daherkommt, sondern mit feiner Ironie verstäubt wird. Und wenn es schon um den Sex geht, ist der Genderdiskurs nicht weit, der hier unter anderem von den rabaukenhaften Frischlingen (Bettina Kurth und Mira Partecke) geführt wird, die Schweine-Heinz mit recht unfeinen Worten belegen, weil er sie angefasst hat. Bleiben noch Cathlen Gawlich als skeptisches, Anna Böttcher als nörgelndes und Annette Strasser als dralles Schwein, um das spielfreudige Ensemble unter der Regie von Judith Lorentz und Autor Hermann Bohlen zu komplettieren.
Nun ist körperliche Kommunikation im Tierreich nichts ungewöhnliches, sondern Grundlage und Ausdruck der Rangordnung. Wer wem die Schwarte putzen muss und wer sich wann am Mahlbaum schubbern darf, definiert die Position in der Rotte. Für Heinz ist es schon eine Auszeichnung, überhaupt zu diesen Ritualen zugelassen zu werden. „Ich bin ein Schwein“, freut er sich, als er sich erstmals geräuschvoll einer Bache zu hygienischen Zwecken widmen darf. Aber auch die verbale Kommunikation ist nicht unproblematisch, versucht es Heinz doch unter anderem mit dem „von Frikativen geprägten ungarischen Scrofa-Dialekt“ wie auch mit dem französischen „Je suis ’einz“. Im Hörspiel sind das eher ungelenke Versuche gegenüber den sich hochdeutsch artikulierenden Tieren. Auch hier funktioniert die Ironie im Text wie in der Inszenierung.
Eine Fabel ist die Geschichte vom „Schweine-Heinz“ nicht geworden, dazu geht es zu wenig moralisch zu. Mit seiner hörenswerten 50-minütigen Produktion bewegt sich Herman Bohlen eher in der Tradition des antiken Komödiendichters Aristophanes als in der des französischen Fabel-Klassikers Jean de La Fontaine.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 26/2017
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