Bestattung einer Gattung – die Wurfsendungen
Julia Tieke (Red.): Wurfsendungen nonstop – Mini-Hörspiele am laufenden Band
DLF 30.04.2024, 20.10 bis 21.00 Uhr /
DLF Kultur, 30.04.2024, 22.03 bis 23.00 Uhr
2004 führte DeutschlandRadio Berlin ein neues Format ein: maximal 45 Sekunden lange Mini-Hörspiele die zufallsgeneriert ins lineare Programm geworfen wurden: die „Wurfsendungen“. Nach 20 Jahren und zwei Senderumbenennungen ist jetzt Schluss damit. Warum bloß?
Gleich dreimal wurde am 30. April in der Morgensendung „Studio 9“ von Deutschlandfunk Kultur das Ende eines Formats thematisiert, das das lineare Programm des Senders geprägt hat und das seit dem 1. Mai Geschichte ist: die maximal 45 Sekunden langen Mini-Hörspiele, die in zufallsautomatisch zusammengewürfelten Dreier-Packs bis zu fünf Mal am Tag ins laufende Programm geworfen wurden, als sogenannte „Wurfsendungen“.
Um 6.19 Uhr und um 7.17 Uhr redete der Moderator Stephan Karkowsky mit seiner Redakteurin im Studio, Julia Bamberg, über die „Wurfsendungen“, und dann um 8.17 Uhr mit dem Chef der Hörspielabteilung, Marcus Gammel, der die „Bestattung einer Gattung“ (Karkowsky) zu verantworten hat.
Auf die Frage nach dem Warum der Abschaffung blieben die Antworten ebenso wolkig wie die nach einem Nachfolge-Format. Gammel zog eine Linie vom Beginn des „dualen Systems“ im Rundfunk ab 1984, das die Hörerschaft erstmals mit kurzformatiger Radiowerbung konfrontierte. Und es dauerte kaum zwanzig Jahre, bis auch das Kulturradio die Möglichkeiten erkannte, durch die Unterbrechung des linearen Flows des Programm Aufmerksamkeit zu erzeugen. Es waren der damalige Kulturchef Wolfgang Hagen, die Hörspielchefin Stefanie Hoster und als Projektleiterin Nathalie Singer, die, nachdem bei Prix Europa ein ähnliches Projekt vorgestellt wurde, die „Wurfsendungen“ ins Leben riefen.
Die zu Beginn von dem Duo Christian Berner und Frank Schültge produzierte Serie „Herr Behrlich“, der mal im Kleiderschrank, mal im Briefkasten, mal im Sicherungskasten (Video) und mal im Radioapparat auf ein kleines bärtiges Männchen traf, ist die erfolgreichste Serie. Die Folge „Im Kühlschrank“ brachte es in den vergangenen zwanzig Jahren auf 95 Wiederholungen. Auch die ebenfalls von Berner und Schültge erfundenen Mini-Roboter „Nano und Mü“, die regelmäßig an der Überprüfung einiger Neuronen in den Gehirnen ihrer Besitzer scheitern, erfreuten sich andauernder Beliebtheit.
Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee
3499 „Wurfsendungen“ in etwa 350 Serien sind in den vergangenen zwanzig Jahren entstanden, sagt die Projektleiterin Julia Tieke, die zusammen mit Clarisse Cossais, Sabine Bohnen und Matthias Karow die „Wurfsendungen“ in den vergangenen Jahren redaktionell betreut hat. Der weit überwiegende Teil der Stücke wurde neu produziert, einige wenige aus Klassikern zusammengestellt – beispielsweise aus Georges Perecs Permutationen des Goethe-Gedichts „Wanderers Nachtlied“ in seinem Hörspiel „Die Maschine“. Die „Serie der Woche“ vor dem Ende der „Wurfsendungen“ stammt aus der berühmten Fluxus-Veranstaltung von Joseph Beuys in der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf im Dezember 1968, in der er gemeinsam mit dem Musiker Henning Christiansen und seinem Assistenten Johannes Stüttgen mehr als eine Stunde lang einen Oma-Dialog, der nur aus den Wörtern „Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee“ bestand, simulierte. Befriedigender kann man den Abschaffern wohl kaum die Zunge herausstrecken.
Das lineare Radio scheint sich bei einigen Senderverantwortlichen genauso großer Beliebtheit zu erfreuen, wie die Personenbeförderung beim Vorstand der Deutschen Bahn AG. Die einen stünden lieber einem globalen Logistikkonzern vor, die anderen wären lieber ein Netflix auf Audio. Dass man eigentlich mit der Ausstrahlung linearer Programme beauftragt ist, ist eher eine lästige Pflicht, der man sich mehr oder weniger engagiert entledigt. Aber genau an diesem Punkt haben die „Wurfsendungen“ gezeigt, was das lineare Radio eigentlich kann, wenn es ein Programm für Hörer und nicht für die nächste Media-Analyse machen will.
Denn die unmoderiert und unkommentiert ins Programm geworfenen Hörspielelemente, die fast immer witzig und oft gewitzt waren, erzählten von dem, was das Radio bedeutet, wenn man sich nicht auf die Optimierung des Audience Flows beschränkt. Das lineare Radio kann überraschen, Neuronen aktivieren, von denen man vorher gar nicht wusste, dass sie sich gelangweilt hatten. Das Radio als Broadcastmedium unterliegt außerdem nicht dem eingebildeten Zwang zu algorithmenverstärkter Personalisierung, deren Konsequenzen man in den sozialen Netzwerken beobachten kann.
Als wäre es wieder 1984
Der 2022 verstorbene Wolfgang Hagen, der mit den „Wurfsendungen“ seinen Sender auf ähnliche Weise für neues Denken geöffnet hat wie Frank Schirrmacher das Feuilleton der „FAZ“, hat etwas geschaffen, was sonst penetrantes Gejingle mit der Station-ID und dem eigenen Werbeclaim erreichen soll – ein zuverlässiges Erkennungsmerkmal. Wenn unvermutet ein schräges Mini-Hörspiel lief, wusste man zuverlässig welchen Sender man hörte. Marketingstrategisch betrachtet ist Deutschlandradio Kultur seit dem 1. Mai wieder ein Kulturradio unter vielen. Oder besser gesagt: unter wenigen, denn die Kulturwellen der ARD stellen sich immer stromlinienförmiger auf, schalten Programme zusammen und bemühen sich, alles Widerständige abzuschleifen – als wäre es wieder 1984 und man müsse den neuen privaten Mitbewerbern alles nachmachen.
Weil sich die Welt in den letzten zwanzig Jahren weitergedreht und die Mediennutzung verändert habe, sei heute etwas anderes innovativ als die „Wurfsendungen“, so Marcus Gammel im Frühprogramm seines Senders. Was aber das Neue sei, zu dessen Entwicklung man sich vergangenen Sommer in Klausur begeben habe, wollte er noch nicht verraten. Nur die Stichwörter „Podcasts“ und „Serien“ ließ er sich entlocken.
Wie bestattet man eine Gattung?
Nachdem also das Warum und das Wozu der Abschaffung der „Wurfsendungen“ im Dunkeln blieb, stellt sich noch die Frage nach dem Wie. Das Deutschlandradio wiederholte am 30. April auf seinen beiden Programmen Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur einen Zusammenschnitt der Liveveranstaltung „Wurfsendung nonstop“ mit den Protagonistinnen Britta Steffenhagen und Gisa Flake, die 2022 beim Leipziger Hörspielsommer und der Kölner Hörspielwiese aufgetreten waren. Warum man auf zwei Wellen zeitversetzt dasselbe Programm sendet? Man weiß es nicht. Vielleicht weil man dadurch ein Wiederholungshonorar spart?
Nicht lumpen lassen hat sich Deutschlandfunk Kultur jedenfalls bei der fetten Abschiedsparty am 25. April im sonst verwaisten Transitraum zwischen dem alten RIAS-Gebäude und dem Anbau mit dem Hörspielstudio, der zur „Glashalle“ nobilitiert wurde. Die Veranstaltung war schnell ausgebucht. Marcus Gammel erntete mit seiner Eröffnungsrede vor einem Publikum, das zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus „Wurfsendungs“-Machern bestand, vereinzelt Buhrufe. Schauspielerin Britta Steffenhagen, die aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen wollte, bekam für ihre deutlichen Worte Szenenapplaus.
Selbstreflexivität erreicht
Crachmacheur Frieder Butzmann sang seine Wurfsendungen selbst, während Stella Luncke und Josef Maria Schäfers das Publikum aufforderten, einen selbst ausgesuchten Ton so lange wie möglich zu halten. Radioschnipselkönig Carsten Schneider („Der Name ist Programm“, moderierte ihn Clarisse Cossais an) zeigte sich als Entertainer, ebenso wie Mariola Brillowska, die ihre Performance gleich für ihren TikTok-Kanal aufzeichnen wollte. Ralf Haarmann und Christiane Hommelsheim, Axel Bagatsch und Marcel Mathea, Brigitte Abraham und Miachel Ebmyer, Jan Theiler und das Trio Britta Steffenhagen, Cathlen Gawlich und Inka Löwendorf demonstrierten einmal mehr, wie variantenreich das Genre sein kann und fragten sich, wie man nur auf die Idee kommen konnte, auf so etwas Schönes verzichten zu können. Die 81-jährige Lyrikerin und Hörspielmacherin Ginka Steinwachs widmete ihrer Redakteurin Julia Tieke, der von allen Seiten viel Liebe entgegenschlug, ein experimentelles Gedicht.
Am Ende des Partyprogramms wurde die Aufnahme des zuvor vom Publikum gesungenen Tons vorgespielt – es waren etwa 45 Sekunden bis auch die letzte Stimme verstummte – „Wurfsendungs“-Länge eben. Die Veranstaltung hatte Selbstreflexivität erreicht, der Rest waren Zugaben. Sämtliche „Wurfsendungen“ sind noch online nachzuhören, wenn man sie denn findet. Ein sogenanntes Archiv gibt es zwar, es ist aber leider weder filter- noch durchsuchbar.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 02.05.2024
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