Wilde Klänge, wildes Denken
Die Klangkünstlerin Michèle Rusconi konfrontiert in ihrem Hörstück „Als das Faultier auf den Tontopf stieß“ verschiedene Denksysteme aus Natur- und Kulturgeschichte zu einer faszinierenden Komposition zwischen Wissenschaft, Musik und Mythos.
Michèle Rusconi: Als das Faultier auf den Tontopf stieß
SRF 2 Kultur, Sa, 08.11.2025, 20.00 bis 21.00 Uhr
Am Anfang war der Quastenflosser, ein Urfisch, den man für ausgestorben hielt – bis er Mitte des 20. Jahrhunderts in einem Fischernetz vor der südafrikanischen Küste wieder auftauchte. Die weitgereiste Schweizer Komponistin, Musikerin und Klangkünstlerin Michèle Rusconi verewigte ihn in einem Hörspiel („Gombessa tabou“, SRF 2023, plus Gespräch). Dann kam der Dodo, ein flugunfähiger Vogel, den die holländischen Kolonisatoren eher zufällig auf Mauritius entdeckten und ausrotteten, nachdem sie auf dem Rückweg von den indonesischen Banda-Inseln in einen Sturm geraten waren („From Nutmeg to Dodo“, SRF 2024 plus Gespräch).
Und jetzt sind es zwei Gattungen aus der Ordnung der Nebengelenktiere (Xenarthra), die das Zentrum von Rusconis neuem 58-minütigen Hörstück „Als das Faultier auf den Tontopf stieß“ (plus Gespräch) bilden. Das Stück ist der dritte Teil ihrer Trilogie aus „Road-Audios“. Wie immer bewegt sich Michèle Rusconi dabei zwischen Musik, Naturwissenschaft und Historiografie, wobei keine dieser Wissenswelten für sich alleine steht.
Ihre südamerikanischen Field Recordings sind dabei kein materialbesoffener Selbstzweck, wie man es manchen Klangkunststücken unterstellen möchte. Die enzyklopädischen Ausführungen dienen einem Bildungsauftrag, den man im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gerne einer Geschichte aufpfropft. Ebenso wenig wie die Kolonialgeschichte vom 15. bis zum 18. Jahrhundert isoliert für sich steht, tut das der Mythos der Jagu, die das Faultier, den Amazonas-Delphin, das Pekari-Schwein und den Maniok als die vier Kinder von Sonne und Mond betrachteten.
„Weder Bedarf noch Wunsch nach Kommunikation“
Sämtliche Elemente sind vielmehr integrale Bestandteile eines Hörspiels, das unterschiedliche Denksysteme gegeneinanderstellt: das christlich-kolonialistisch-systematische und das „wilde“ Denken, das im Modus der „Bricolage“ nach Claude Lévi-Strauss operiert. „Alle Ereignisse sind (in der besten aller möglichen Welten) miteinander verknüpft“, ist auch ein wiederkehrendes Motiv in Rusconis Hörstück. Was wie eine Binsenweisheit klingt, wird hier glaubhaft hörbar.
Rusconi erzählt vom Asteroiden, der die Dinosaurier ausrottete und damit Platz für die Säugetiere schuf und unter anderem das bis zu sechs Meter große und sieben Tonnen schwere Riesenfaultier (Megatherium) hervorbrachte, das erst vor 10.000 Jahren ausgestorben ist. Die beiden Gattungen der Faultiere, die heute noch existieren, sind die eher schläfrigen Dreifinger-Faultiere (Bradypus) und die etwas agileren Zweifinger-Faultiere (Choloepus), die auch nachts wachsam sind. Bradypus und Choloepus sind entfernte Nachkommen von Megatherium, haben genetisch aber kaum etwas miteinander zu tun. Gemeinsam ist ihnen als stationären Einzelgängern „weder Bedarf noch Wunsch nach Kommunikation“.
Natürlich wäre jetzt die Versuchung groß, das Ganze als feuilletonistische Metapher aufzufassen und mit ein paar kolonialismuskritischen Seitenhieben und ökologischen Dystopien zu garnieren. Schließlich diente das Faultier im Wappen als Zeichen der Todsünde Trägheit (Acedia),von wo es zur Misogynie auch nicht mehr weit war: „Le paresseux a l‘air d‘une femme mal coiffée“ (Das Faultier sieht aus wie eine schlechtfrisierte Frau), sagte der portugiesische Missionar Fernão Cardim im 16. Jahrhundert.
Tieferliegende Kontexte
Doch das sind nur Oberflächenphänomene, die Michèle Rusconi zusammen mit ihrem Material vom Urwaldgeräuschen über Barockmusik, klirrende Industrialsounds bis zur sägenden Stromgitarre zu einer musikalischen Gesamtkomposition verdichtet, in der die einzelnen Elemente ihren Platz finden, ohne allzu laut „Hier!“ zu schreien. Will heißen, ohne die tieferliegenden Kontexte zu dominieren.
Wie schon in „From Nutmeg to Dodo“, in dem mindestens fünf Sprachen verwendet wurden, arbeitet Rusconi auch in ihrem aktuellen Stück mit deutschen, französischen, spanischen und indigenen südamerikanischen Texten. Manchmal werden sie übersetzt, manchmal nicht. Die Haltung dahinter ist weder eine arrogant bildungsbürgerliche, die davon ausgeht, dass man die paar europäischen Sprachen schon draufhaben wird, um das Gesagte zu verstehen, noch geht es darum, den verständnislosen Genuss anderer Sprachmelodien zu erzwingen.
Im Stück wird das als die Philosophie des Faultiers nach William Hirstein etikettiert: „If you don‘t succeed, give up and take a nap“ (Wenn Sie keinen Erfolg haben, geben Sie auf und machen Sie ein Nickerchen), kann man ironisch als entlastendes Motto verstehen.
Fehlen zu einer Hörspielkomposition noch die Stimmen, von denen hier neben Janna Horstmann, Leila Férault, Franziska Seeberg, Peter von Stromberg, Anna Clementi, Tehila Nini Goldstein vor allem die des in Schottland geborenen und in der Schweiz lebenden Schauspielers und Hörspielsprechers Graham F. Valentine zu nennen ist. Dessen unnachahmliches Timbre funktioniert auf Deutsch noch besser als auf Englisch. Einen Schluss hat das Stück übrigens nicht. Und auch der Tontopf, auf den das Faultier im Titel trifft, bleibt nur eine Randnotiz – im Mythos fungiert er als erste Frau des Faultiers. Das kann man kaum wilder denken.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 06.11.2025

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