Wer spricht? Oder: Wie man den Hörmonolog neu definiert
Susann Maria Hempel: Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen
RBB Kulturradio, Mi 28.11.2018, 22.04 bis 23.00 Uhr
Immer mal wieder muss man sich beim Hörspiel die klassische Frage stellen: Wer spricht? Bei der Experimentalfilmemacherin und Radioautorin Susann Maria Hempel muss man sich diese Frage sogar dann stellen, wenn man sie auf offener Bühne sieht. Im Rahmen der Gala „Radio Vision“ am 17. November in der Berliner Akademie der Künste übernahm den Part ihrer Stimme ein Radiorecorder, während die Autorin den Text auswendig synchronisierte – eine Playbackschleife, die das Akustische optisch verdoppelte, was besonders auffiel, wenn die Autorin die Synchronisation satzweise aussetzte.
Auch in Hempels neuem Hörspiel „Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen“ ist es allein ihre Stimme, die – bisweilen verdoppelt – einen unaufhaltsamen Redefluss formt, in den spätromantische Volkslieder eingebettet sind. Auch die werden (mehrstimmig) von ihrer Stimme gesungen. Doch wer da spricht, ist zunächst schwer zu entschlüsseln. Eine der Stimmen gehört einer Person namens Susann, was man deshalb weiß, weil sie gleich im ersten Satz mit ihrem Namen angesprochen wird. Die Autorin übernimmt als Sprecherin sowohl die Stelle der Adressatin als auch die der Gesprächspartner, die nur kurz mit ihren Vornamen Erich und Konrad erwähnt werden. Allesamt sind sie schwer geschädigte Existenzen. Den Hauptteil der Konversation übernimmt eine namenlose Figur, von der man nach und nach erfährt, dass sie eine zutiefst versehrte Persönlichkeit ist. Nach einem angeblichen Fluchtversuch ist ihr nach Drangsalierungen und Folterungen in einem DDR-Gefängnis der 1980er Jahre ihre Seele abhandengekommen – wohl in einem letzten verzweifelten Akt des Selbstschutzes.
Auch Jahre nach der Haft ist die Seele nicht an ihren angestammten Ort zurückgekehrt. „So dumm, wie’s klingt: Ich bin net ich, was vor dir sitzt, Susann“, hört man mit leicht thüringischer Sprachfärbung einen der zentralen Sätze des Hörspiels, das auf Gesprächen der Autorin mit einem damals inhaftierten vermeintlichen Republikflüchtling basiert. Gesendet wurde das 55-minütige Stück im Kulturradio des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) denn auch an einem Mittwochabend auf dem von Mareike Maage betreuten Feature-Sendeplatz. Maage, Redakteurin beim RBB-Hörfunk, hatte auch schon Susann Maria Hempels erstes Hörspiel „Niemand stirbt so arm, dass er nicht irgendetwas hinterlässt“ im Rahmen des sommerlichen ARD-Radiofestivals produziert. Doch ebenso wie das Vorgängerstück, zu dem „Auf der Suche nach den Seelenatomen“ einige inhaltliche Bezüge aufweist, ist dieses neue Stück von der Formensprache, seiner akustischen Anlage und seiner kompositorischen Konstruktion her ein Hörspiel und kein Feature. Das hat auch die Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste so gesehen, die das Stück sehr zu Recht zum Hörspiel des Monats November gewählt hat (vgl. diese MK-Meldung).
Auf der Internetseite des RBB – und nur dort – ist dem Hörspiel „Auf der Suche nach den Seelenatomen“ noch der Untertitel „Oder: Unser ist des heilgen Waldes Dunkel“ hinzugefügt – eine Zeile aus dem Wanderlied „Heute wollen wir das Ränzlein schnüren“ des Komponisten Reinhold Schaad aus dem Jahr 1913 und damit eines der Lieder, die in dem Stück, wie es die Hörspiel-des-Monats-Jury genannt hat, „in elektronischer Entfremdung“ präsentiert werden. Ähnlich wie die Hörspielautoren Oliver Augst und Christoph Korn in ihrem auf einer Computerinstallation basierenden Hörspiel „Volksliedmaschine“ (vgl. FK-Heft Nr. 15/02), das gerade als „Volksliedmaschine 2.0“ online gegangen ist, reaktiviert Susann Maria Hempel Lieder der Spätromantik von Joseph von Eichendorff über Robert Schumann bis hin zu Heinrich Heine und verleiht ihnen im Zusammenhang mit den Seelennöten ihres Protagonisten Kraft, Gegenwärtigkeit und Bedeutung.
Während bei Augst und Korn maschinelle Algorithmen deutsche Volks- und Kunstlieder verarbeitet hatten und im Hörspiel „Sowieso der Apparat erwürgt dem Zeit“ von Peter Dittmer und Guido Graf eine lernfähige Maschine auf die Frage „Wo ist die Seele?“ mit „In den Metaphysiken innen“ geantwortet hatte (vgl. FK-Heft Nr. 51-52/05), rettet Susann Maria Hempel das Humanum. Sie bezieht sich dabei auf den römischen Philosophen Lukrez. Der hatte im ersten vorchristlichen Jahrhundert postuliert, „dass das feine Gebilde der Seele aus kleinsten Atomen besteht, die kleiner bei weitem sind als die Elemente des Wassers“. Susann Maria Hempel zitiert weiter: „Glaube mir, dass auch die Seele noch schneller sich teilt auseinander und noch rascher vergeht und in ihre Atome sich auflöst, ist sie einmal den Gliedern des Menschen entflohn und entwichen.“
Mit ihrem Hörspiel „Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen“ veranschaulicht Susann Maria Hempel auf berührende Weise die Verletzlichkeit der menschlichen Seele und definiert ganz nebenbei das Genre des Hörmonologes neu. Das gelingt zum einen dadurch, dass sie es wie nur wenige Autoren vor ihr vermag, ihre Texte mit ihrer Stimme zu beglaubigen, und zum anderen dadurch, dass ihr das Kunststück gelingt, fast ausschließlich mit dem Mittel der Überlagerung ihrer Stimme mit sich selbst Monologisches, Dialogisches und Chorisches in einer spannungsreichen Schwebe zu halten.
Mit ihrem Hörspiel „Auf der Suche nach den verlorenen Seelenatomen“ veranschaulicht Susann Maria Hempel auf berührende Weise die Verletzlichkeit der menschlichen Seele und definiert ganz nebenbei das Genre des Hörmonologes neu. Das gelingt zum einen dadurch, dass sie es wie nur wenige Autoren vor ihr vermag, ihre Texte mit ihrer Stimme zu beglaubigen, und zum anderen dadurch, dass ihr das Kunststück gelingt, fast ausschließlich mit dem Mittel der Überlagerung ihrer Stimme mit sich selbst Monologisches, Dialogisches und Chorisches in einer spannungsreichen Schwebe zu halten.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 25-26/2018
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