Wenn der Wind am Ende dreht
Anja Herrenbrück: Frontfoto
WDR 3 Mo 12.11. / WDR 1Live Di 13.11. jeweils 23.05 bis 23.55 Uhr
Im Jahr 2006 wurde bei den ARD-Hörspieltagen die Wettbewerbskategorie „Premiere im Netz“ eingeführt: Hier ist die freie Szene aufgerufen, unveröffentlichte Eigenproduktionen von maximal 15 Minuten Länge einzureichen. Dem Gewinner winkt ein Stipendium zur Umsetzung eines regulären Hörspielskripts bei einer der neun ARD-Landesrundfunkanstalten. 2011 erhielten diesen Preis Anja Herrenbrück als Autorin und Regisseurin sowie Christian Ogrinz als Komponist für ihr Stück „Küsse, Bisse – Hommage an Kleist“.
Anja Herrenbrück arbeitet schon seit 1998 als Regieassistentin für den Westdeutschen Rundfunk (WDR), seit 2007 ist sie auch als Hörspielregisseurin tätig – konnte also nicht unbedingt für sich in Anspruch nehmen, ein „Newcomer“ aus der freien Hörspielszene zu sein. Doch wie dem auch sei, das aus dem Stipendium resultierende, rund 50-minütige Hörstück „Frontfoto“, für das Herrenbrück und Ogrinz die Rollenverteilung bei Skript, Regie und Komposition beibehielten, wurde im Programm WDR 3 einen Tag nach dem Ende der diesjährigen ARD-Hörspieltage urgesendet.
Sven Knapp (Carsten Wilhelm) arbeitet auf der Bußgeldstelle Oberbergischer Kreis und hat täglichen Umgang mit den Aufnahmen von geblitzten Wagen. Eines dieser sogenannten Frontfotos erregt bei ihm besondere Aufmerksamkeit, denn darauf hält der Beifahrer – und das ist Knapps Vorgesetzter Alfons Ritter (Rainer Bock) – dem Fahrer ein Gewehr an die Schläfe. Der verheirate Sven ruft seine Geliebte an, die Nichte seines Chefs und Inhaberin eines Biohofs mit Laden. Nicki Ritter (Judith Hoffmann) reagiert zunächst erschrocken, als er sie anruft und ihr dann das Foto schickt: „Ja, aber sowas macht Onkel Alfons sonst nicht!“
Diese drei familiär, amourös und dienstlich verbandelten Personen bilden das überschaubare Ensemble an Hauptfiguren. Neben den Motiven, die sich aus diesen Beziehungen ergeben, treibt vor allem eine wilde Vermutung die Handlung voran. Windkraftwerke, so glaubt Alfons Ritter, erzeugen Infraschall in gesundheitsgefährdender Lautstärke. Das schreibt er auch in seinem Blog, der regelmäßig von „Dulcinea58“ besucht wird, die, wie der Nickname nahelegt, zuckersüße Kommentare abgibt, mit denen sie den Verfasser „unterstützt“. Als Helfer im Kampf gegen die modernen Windmühlen rekrutiert Alfons Ritter Sven Knapp – da dessen Ehefrau nichts von dessen Affäre mit Nicki wissen darf, lässt er sich leicht erpressen.
Dem von Anja Herrenbrück gewählten Bezug auf Miguel de Cervantes’ „Don Quijote“ entsprechend kommen die beiden Männer in absurd gefährliche Situationen. Sie schießen nachts auf Windräder oder befreien Insassen eines Gefangenentransports, da die Verhafteten nach Ritters Meinung in den Wahnsinn getriebene „Infraschallopfer“ sind und für ihr Handeln quasi keine Verantwortung tragen. So könnte das szenisch aufgebaute Stück, in dem elektronisch verzerrte Bässe und Pfeiftöne als Trennelemente fungieren, auch zu Ende gehen. Anja Herrenbrück und den Sprechern gelingt es, mittels Figurendialog ein unterhaltendes Hörspiel zu gestalten. Es widmet sich dem verworrenen Gewebe aus Verschwörungstheorien anhand eines einzelnen Fadens – der längst widerlegten Vermutung, Infraschall werde von Windkraftanlagen in höherer Lautstärke ausgestoßen als von natürlichen Quellen wie dem Wind.
Aber Herrenbrück will ihre bis dahin gute Arbeit plötzlich aus dem ländlichen Umfeld heraushieven und in einen größeren Zusammenhang setzen. Am Ende des Stücks bekommt der Hörer einiges aufgetischt: Biobauern lassen ihre Kühe und Verwandten mit Antibiotika behandeln, außerdem ist es der Staat, der die Blogs steuert, auf denen mit irrationalen Argumenten und falschen Quellenangaben gegen Windräder mobil gemacht werden soll. Zu diesen aus dem Hut gezauberten Bezügen, die das Stück ein wenig in die Nähe der vorher, wie es schien, lächerlich gemachten Verschwörungsgläubigen rücken, fährt die Handlung auch noch auf der pädagogischen Schiene, die im übertragenen Sinn mit der Warnung endet: Im Internet ist nicht jeder der, der zu sein er vorgibt.
Das konstruierte Ende ruft dann wieder all das in Erinnerung, was vorher vielleicht schon aufgefallen war, jedoch verdrängt wurde. Klischeehaft gezeichnete Nebenfiguren etwa, die zudem in beliebigen Nebenhandlungen agieren. Oder die pflichtschuldige, aber deplatzierte Auflösung der Entführung eines Bankers durch Alfons Ritter, die zum Foto der Anfangsszene geführt hat. Und was macht eigentlich Nicki in dem Stück, außer naiv zu sein, einen Bauernhof zu besitzen und mit Sven schlafen zu wollen? „Frontfoto“ wirkt wie die durchdachte Episode einer Serie zum Themenfeld Verschwörungstheorien. Statt der nächsten Folge kommt aber eine aufgepfropfte Auflösung, die so viel Wind macht, dass das Stück selbst in unbestimmte Gefilde fortgeweht wird.
Rafik Will – Funkkorrespondenz 46/2012
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