Welche Natur wollen wir sein?
Frank Raddatz, Denise Reimann: Die Konferenz der Flüsse
Deutschlandfunk, 11.11. und 18.11.2023, 20.05 bis 21.35 Uhr
Deutschlandfunk Kultur 12.11. und 19.11.2023, 18.30 bis 21.00 Uhr
Bevor Flüsse begradigt und zu Wasserstraßen herabgewürdigt wurden, mäanderten sie durch die Landschaft und schufen die Voraussetzungen für die menschliche Kultur, von der sie jetzt bedroht werden. Höchste Zeit für eine „Konferenz der Flüsse“.
Wenn einem eine insgesamt dreistündige Sendung keine Minute zu lang vorkommt und die Fragen, die sich unterwegs stellen, später beantwortet werden, dann haben die Macher dramaturgisch wohl einiges richtig gemacht. „Die Konferenz der Flüsse“ von Frank Raddatz und Denise Reimann ist so ein Stück, das in mäandernden Denkbewegungen Fragen provoziert, um sie später wieder einzuholen und zu beantworten.
Ähnlich wie in Erich Kästners Roman „Die Konferenz der Tiere“, der zwischen 1950 und 2018 mehrfach verhörspielt wurde, geht es in der „Konferenz der Flüsse“ um das, was „diese Hominiden“ dort anrichten. Auch um die neun größten Flüsse der Welt hat sich das Radio schon gekümmert, als der Hessische Rundfunk das Pfingstwochenende 2002 freiräumte, um die neun Ströme in jeweils dreistündigen Features zu porträtieren.
Die Flüsse im Hörspiel von Raddatz und Reimann sind jedoch nicht nur die des Realen, sondern sie fließen auch durch das Imaginäre, wie beispielsweise der Styx (Ilse Ritter), der ebenso permanent wie penetrant „Schtücks“ ausgesprochen wird. Moderiert wird die Konferenz von der im Vergleich zu Nil (30 Millionen Jahre alt, Amre Kassem) und Rhein (15 Millionen Jahre alt, Hanns Zischler) 20.000 Jahre jungen Spree (Anne Müller); unterteilt ist die Konferenz in sechs Panels: „Fließende Liebschaften“, „Strom und Drang“, „Klagende Wasser“, „Die Kultur der Ströme“, „Stimmen im Fluss“ und „Obolus und Kapital“.
So funktioniert die Konfektionierung der Sendung in einen sechsteiligen Podcast für die DLF- und die ARD-Audiothek mit jeweils halbstündigen Folgen. Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur haben „Die Konferenz der Flüsse“ aber auch als zweiteiliges Hörspiel (11. und 12. sowie 18. und 19. November) auf beiden Programmen gesendet.
Natur-kulturelle Hybride
Eine entscheidende Frage wird gleich am Ende der ersten Folge gestellt: Welche Natur wollen die Flüsse haben? Ihr Naturzustand ist nicht wiederherstellbar. Die Flüsse sind natur-kulturelle Hybride geworden. Der Rhein beispielsweise ist durch die Begradigungen von Johann Gottfried Tulla seit dem 19. Jahrhundert eine Wasserstraße geworden, die 2.000 Inseln und 40 ihrer 47 Fischarten verloren hat. In Frankreich trocknet die Garonne langsam aus, weil ihr Wasser von Industrie und Landwirtschaft entnommen wird. In Deutschland sind in der Dürre des vergangenen Sommers die sogenannten „Hungersteine“ in den Flussbetten sichtbar geworden, während ein Flüsschen wie die Ahr (Maren Kea Freese) mit ihren Überflutungen für katastrophale Schäden gesorgt hat.
Bevor aber das gesamte Anthropozän sprichwörtlich über den Jordan geht – der übrigens als Fließgewässer nur noch existiert, weil er aus ungeklärten Abwässern besteht – beschließen die Flüsse eine Resolution, die ihr Recht auf Existenz, auf sauberes Wasser und auf Fließen fordert. Durchsetzen kann man das am besten vor Gericht. Warum? Weil sich die Flüsse (und Wälder und Tiere) erst juristisch gegen ihnen vorsätzlich zugefügten Schaden wehren können, wenn ihnen ein Status als Rechtssubjekte zuerkannt wird. Andere nichtmenschliche Akteure wie Unternehmen können das als juristische Personen schon längst.
Die Schuldfrage
Doch es gibt noch ein anderes Erzählmuster, dem auf Panels und in Plenen, in Arbeitsgruppen und Kommissionen immer wieder gerne nachgegangen wird, nämlich der Frage: Wer ist schuld? Genauer: Wer hat dem Homo sapiens seine überwältigende Macht gegeben? Auch die Flüsse sind von dem entlastenden Affekt, einen Schuldigen zu benennen, nicht frei. Aber bevor man sich zerstreiten kann, meldet sich der Nil zu Wort und nimmt alle Schuld auf sich. Er sei unbeabsichtigt verantwortlich für die Grundlagen der brutalen menschlichen Kultur („Was, du warst das?“ – „Ich glaub’s ja nicht.“ – „Was hast du dir dabei gedacht?“).
Natürlich funktioniert das als „Comic Relief“, hat aber auch einen wahren Kern. Denn laut dem französischen Philosophen Michel Serres entstand im alten Ägypten die Geometrie quasi gleich-ursprünglich mit dem Recht. Weil durch die regelmäßigen Überschwemmungen des Nils die Grenzziehungen verloren gingen, entstand die Landvermessung und damit das Recht, die Grenzen wiederherzustellen.
„Solange diese Menschenspezies auf etwas beharrt, was sich Zivilisation nennt, solange ist das Recht das effektivste Instrument, um unsere Interessen durchzusetzen“, beantwortet der mexikanische Rio Magdalena in der vierten Folge die Frage, die in der dritten Folge („Klagende Wasser“) noch offengeblieben war. Dass der Nil natürlich nicht allein an allem Schuld war, beweist eine Reise durch die frühgeschichtlichen Hochkulturen rund um die Welt.
Fülle an Geschichte und Geschichten
Es ist nicht nur die Fülle des Wissens, die in der „Konferenz der Flüsse“ vermittelt wird und die immer wieder staunen lässt, sondern es ist auch die Fülle an Geschichte und Geschichten, die hier erzählt werden. So bedient das Hörspiel nicht das dystopische Erzählmuster des Niedergangs angesichts des Klimawandels, sondern feiert den kulturellen Reichtum, den die Flusskulturen, angefangen vom Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, hervorgebracht haben.
Die Autoren Denise Reimann, die als Literaturwissenschaftlerin der Humboldt-Universität in Berlin lehrt, und der Dramaturg Frank Raddatz, der Anfang der 1990er Jahre für seine Interviews mit dem DDR-Dramatiker Heiner Müller bekanntgeworden ist, haben offensichtlich ausführlich recherchiert und präsentieren die Früchte ihrer Belesenheit auf charmanteste Art und Weise.
Erzählt werden dieses Geschichten in den Sprachen der Flüsse, also auf Arabisch, wenn der Nil (Amre Kasem) zu Wort kommen, auf Chinesisch, wenn der Jangtsekiang (Fang Yu) sich einmischt, auf Französisch, wenn die Garonne (Sandra Bourdonnec) ihr Leid klagt oder auf Spanisch, wenn der Rio Magdalena (Darinka Ezeta) aufbegehrt. Das klingt sehr selbstverständlich und außerdem trifft die Stimme von Jens Harzer, der einige Übersetzungen im Voiceover übernimmt, immer den angemessenen Ton. Wie überhaupt das hochkarätig besetzte Ensemble (neben den Genannten: Lore Stefanek in der Rolle der Donau, Jeff Burnelle als Mississippi, Ruth Rosenfeld als Jordan, Carolina Riaño Gomez als Rio Vilcabamba, Long Dang-Ngoc als Mekong, Tony de Mayer als Senne, Mazen Aljubbeh als Euphrat u.v.a.m.) offensichtlich mit ihrer Hörerschaft das Staunen über die Sachverhalte, die sie da vorzutragen haben, teilt.
Man hört niemals denselben Fluss
Es ist, und das muss man mittlerweile dazusagen, keine Konfektionsware, die da aus den Lautsprechern quillt, sondern das wozu der öffentlich-rechtliche Rundfunk beauftragt ist: ein unterhaltsames Kulturprogramm, das seine Hörer nicht für dümmer hält als seine Macher und das man mehrmals hören kann, um immer wieder neue Aspekte zu entdecken. Man hört niemals denselben Fluss. Auf Ohrenhöhe bewegen sich auch die Regie von Leopold von Verschuer und die musikalische Gestaltung von Bo Wiget.
Da wird gleich zu Beginn klargemacht, dass man hier nicht Variationen von Händels „Wassermusik“, Schumanns „Rheinischer Sinfonie“ oder Schuberts „Forellenquintett“ zu hören bekommen wird. Selbst Smetanas „Die Moldau“ wird nur kurz zitiert, bevor später Hanns Zischler und das Sprecherensemble Brechts „Lied von der Moldau“ anstimmen – ohne im mindesten verhehlen zu wollen, das Gesang nicht ihre Kernkompetenz ist.
Am Schluss verabschieden die Flüsse nicht nur eine Resolution, die unter anderem das Recht auf Mäandern festschreibt, sondern auch die Selbstverpflichtung „für Geschichten zu sorgen, die erzählt werden wollen“. Wer hätte gedacht, dass das Erzählen und die Erhaltung der Ökosysteme so eng zusammenhängen können. Frank Raddatz und Denise Reimann zeigen auf ästhetisch überzeugende Weise, wie Kunst auf die ökologische Krise reagieren kann.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 23.11.2023
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