Weder notwendig noch kontingent
Nikolas Darnstädt: Revolutionsstück
DLF, 23.12.2023, 20.05 bis 21.05 Uhr
In ihrem „Revolutionsstück“ erzählen die Brüder Nikolas und Lukas Darnstädt die Geschichte der Protagonisten der Französischen Revolution rückwärts und die Geschichte der litauischen Unabhängigkeitsbewegung vorwärts. Doch das will nicht immer zusammenpassen.
Am 5. April 1794 schnellt die Guillotine nach oben, gebiert ihre Kinder und gibt sie der Revolution zurück. „Wie konnte es damals soweit kommen? Warum mussten so viele sterben?“ Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen, erzählen Nikolas Darnstädt und sein Bruder Lukas (Komposition und Sounddesign) in ihrem einstündigen Hörspiel „Revolutionsstück“ die Geschichte der Französischen Revolution anhand ihrer Protagonisten Desmoulins, Robespierre, Danton und Saint-Just rückwärts.
Von diesem Tag im Frühling an wird in immer größeren Schritten die Vorgeschichte der Hinrichtungen erzählt – mit Saint-Just als finsterem Bösewicht, der Robespierre quasi die Hand für die Unterschrift unter die Haftbefehle für Danton und seinen Freund Desmoulins führen muss, die ihren Tod bedeuten werden.
Parallel dazu wird aber gleichzeitig die Geschichte des „Vilniuser Blutsonntags“ vom 13. Januar 1991 von der Nachrichtensprecherin Egle Bucelyte erzählt. Sie blieb auf Sendung, während sowjetische Truppen schon das Fernsehzentrum der litauischen Hauptstadt stürmten. Der Komplex wurde, ebenso wie das Parlament, von Bürgerinnen und Bürgen mit ihren Körpern vor den Panzern geschützt. Es gab 14 Tote und 800 Verletzte. Waren es in Litauen nur wenige Stunden, in denen der „konterrevolutionäre“ Putsch scheiterte, ist die Zeit, die Darnstädt der Französischen Revolution widmet, gedehnt.
Egle Bucelyte, die an jenem 13. Januar ihren 28. Geburtstag feierte und dieses Datum als ihre zweite Geburt bezeichnete, berichtet aus der Distanz von 32 Jahren im O-Ton von ihren Erfahrungen. Über diese halbe Stunde, die sie im Studio waren, und die alles verändert hat. Im Angesicht des Todes vor den Gewehrläufen der Truppen „erkennt man, dass das überhaupt nicht beängstigend ist und dass man das alles nicht für sich selbst tut – man tut es für alle“, sagt sie heute. Es ist eine Geste der Selbstermächtigung und der Selbstwirksamkeit, die für ein Leben und eine Gesellschaft ausgereicht hat.
Parallel dazu erzählt das Hörspiel vom Sommer 1793, als Danton im Konvent das geplante Revolutionstribunal und den Wohlfahrtsausschuss gegenüber der Gironde durchsetzt. Dort stellt er so unangenehme Fragen, wie die nach der Gewaltenteilung, die doch die Grundbedingung einer neuen Gesellschaft darstellen sollte. Noch weiter in der Geschichte zurück geht es, als Desmoulins 1789 zum Sturm auf die Bastille aufruft und seine Rolle in der Geschichte definiert.
Geschichte ist kein Zufall
Der früheste Zeitpunkt in Darnstädts Rückwärtserzählung ist die Geburt von Desmoulins‘ Frau Lucile Laridon-Duplessis, die eine Woche nach ihrem Mann guillotiniert wurde. Sie war es auch, die die Fragen zu Beginn des Hörspiels gestellt hat und zu seinem Schluss darauf hinweist, dass die Welt, in der wir heute leben, nicht durch Zufall entstanden ist: „Ihr werdet in einer Welt leben, die wir gemacht haben. Welche Welt lasst ihr heute entstehen?“
Die Kombination einer blutigen postrevolutionären mit einer geglückten friedlichen Revolution (so nennt sie jedenfalls Egle Bucelyte) will aber nicht so recht aufgehen. Im Vergleich überwiegen die Differenzen, denn es ist offensichtlich ein Unterschied, ob man für eine Revolution stirbt – oder ob man für sie mordet. Wer den Tod als Produktivkraft nutzt, kommt kaum umhin, die Blutmühlen am Laufen zu halten.
Nichts an der geschichtlichen Entwicklung ist notwendig, aber auch nichts kontingent, könnte man Darnstädts Quintessenz beschreiben. Vielleicht ist es aber auch Walter Benjamins rückwärtsgewandter „Engel der Geschichte“, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt: „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“
Warum sich dieses Hörspiel aber auf jeden Fall lohnt, sind Komposition und Sounddesign von Lukas Darnstädt, der auch schon das erste Hörspiel seines Bruders „Odyssee Mare Monstrum“ (DLF 2017) und die Stücke von Michel Decar auf neue akustische Höhen gehoben hat. Die Stimmen von Sophia Burtscher, Laura Eichten, Lola Klamroth, Benjamin Kühni, Frauke Poolman, Minna Wündrich, Felix Strobel und anderen sind in eine Klangwelt eingebettet, die unmittelbar auf sie zu reagieren scheint. Atmosphärisch dicht schmiegen sich die weder historisierenden noch modernistischen Sounds an die Figuren und Situationen an – und manchmal auch an die Apparate zu ihrer Wiedergabe und Übertragung. Das ist und sorgt für eine Verklammerung der beiden Ebenen des Textes, die sonst auseinanderdriften.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 21.12.2023
Schreibe einen Kommentar