Verletzlichkeit mit Schnecke
Duygu Ağal, Fikri Anıl Altıntaş, Paulina Czienskowski, Theresia Enzensberger, Karen Köhler, Miku Sophie Kühmel, Jakob Nolte, Karosh Taha, Fabian Saul & Senthuran Varatharajah, Julia Weber:
Zärtlichkeiten – Zehn Geschichten über Nähe und Verbundenheit
DLF Kultur, So, 23.07.2023, 18.30 bis 20.00 Uhr
So,17.09.2023, 18.30 Uhr
Diesen Sommer geht die Abteilung Radiokunst von Deutschlandradio in Klausur und überlegt sich in ihrem sogenannten „Probenraum“, wie es weitergehen soll mit Hörspiel und Feature im Linearen und Nichtlinearen. Die dreizehn Sommerwochen werden unter dem Motto „Die Dinges des Lebens“ mit Stücken aus dem Archiv gefüllt. Jede Woche hat ein anderes Thema (Anfänge, Comming of Age, Drogen, Auf Reisen, etc.). Die Woche vier steht unter dem Motto „Sex“ und startet mit einer Ursendung: zehn Kurzhörspielen unter dem Titel „ Zärtlichkeiten – Zehn Geschichten über Nähe und Verbundenheit“. Ab Freitag, den 21. Juni stehen sie online, am Sonntag, den 23. Juni laufen neun der zehn Stücke auf dem 90-minütigen Sendeplatz um 18.30 Uhr. Für das zehnte Stück, Sophie Kühmels „Sind wir schon da?“, war kein Platz mehr. Das wird am 17. September nachgeholt.
Denn aus den ursprüngliche geplanten 10 x 8 Minuten sind Stücke zwischen 9 und 16 Minuten brutto geworden – online jeweils mit der Antwort eines der Beteiligten (von Autoren über Schauspieler bis zur Regieassistentin), was für sie Zärtlichkeit sei. Doch das Phänomen Zärtlichkeit lässt sich nur schwer begrifflich fasse. Das mag daran liegen, dass es um eine Erfahrung geht, die mit einem Sinnesorgan zu tun hat, das nicht über elektronische Massenmedien stimuliert werden kann: die Haut. ASMR-Gesäusel (Autonomous Sensory Meridian Response), das ganz nah am Mikrophon das Trommelfell streicheln will und sich auf Youtube großer Beliebtheit erfreut, gibt es allerdings nicht zu hören. Stattdessen beschreibt Julia Weber in ihrem Stück „Ruth“ (Valery Tscheplanowa) die Berührung der Haut, die knistert, wie wenn eine Kartoffel in Alufolie eingewickelt wird.
Die zehn Autoren (drei männlich, sechs weiblich, einer divers), Duygu Ağal, Fikri Anıl Altıntaş, Paulina Czienskowski, Theresia Enzensberger, Karen Köhler, Miku Sophie Kühmel, Jakob Nolte, Karosh Taha, Fabian Saul & Senthuran Varatharajah, Julia Weber, die zu dieser Anthologie „über das, was Verbindung schafft“ kommen eher aus der Literatur als vom Radio. Zusammengehalten werden die Stücke bis auf eines durch die Inszenierung von Regisseurin Judith Lorentz und die Musik und das Sounddesign von Philipp Johann Thimm.
Das Stück, das nicht von Lorentz/Thimm realisiert wurde heißt „Und das ist, was du lieben und wissen musst“ und stammt von dem tamilisch-stämmigen Schriftsteller, Philosophen und Theologen Senthuran Varatharajah und wurde von seinem Ko-Autor, dem Schriftsteller und Komponisten Fabian Saul inszeniert. Varatharajah definiert in seinem Eingangsstatebment: „Zärtlichkeit ist ein Modus der Liebe und so wie die Liebe ist die Zärtlichkeit eine alchimistische Kraft, die den Menschen aus dem Stein befreit, in den wir ihn verwandelt haben“, und Saul sekundiert: „Zärtlichkeit ist ein Programm des Mitgefühls, dass wir sagen, dass zwei widersprüchliche Wahrheiten gleichzeitig wahr sein können, dass es keine Selbigkeit in der Erfahrung gibt und dass in der gegenseitigen Manifestation der Abwesenheit des jeweils anderen beide erhalten bleiben.“
Die Antwort Senthuran Varatharajah die auf die Frage gibt, was man lieben und wissen muss, ist, dass man nichts festhalten kann. Diese Erkenntnis resultiert aus der brutalen Erfahrung der Massaker der Sengalesen an den Tamilen im schwarzen Juli 1983, die ihre Opfer über die Sprache, will heißen über mit Akzent gesprochene sengalesischer Wörter fanden. Dass das, was man nicht festhalten kann, trotzdem da ist, hört man anhand einer heftig gefilterten weiblichen Stimme, die „Oh my love“ aus der „Unchained Melody“ von Elvis Presley singt. Die Zärtlichkeit einer Erinnerung.
Eine Gewalterfahrung ist ebenfalls das Thema in „Uber alles“ von Karen Köhler. Und auch das Stück, das wie in einer Zeitlupenaufnahme den Überfall einer Nazigang auf eine Punk-Bar schildert, hat einen Signatur-Song: „California uber alles“ von den Dead Kennedys. Die Ich-Erzählerin (Leonie Benesch) imaginiert sich in der Situation als durchlässig wie eine Qualle in ein Aquarium, das von Frontscheibe der Kneipe begrenzt wird.
Verlust, Verletzlichkeit und Tod sind auch die Themen weiterer Stücke, wie beispielsweise der Geschichte über eine demente Mutter „Rotkohl mit Sahne“ von Paulina Czienskowski mit Hildegard Schmahl und Mira Partecke. Hier kommt das Motiv der Schnecke vor, das auch mehr oder weniger prominent in den meisten anderen Stücke vorkommt, was kein Zufall sein kann. Ist es bei Czeinskowki eine Schnecke deren Haus in Trümmern liegt und deren Schleimfaden kein Ariadnefaden mehr ist. Es führt kein Weg mehr aus dem Labyrinth der Demenz.
In „Ein Tier gesteht nicht“ von Karosch Taha ist die Schnecke ein formloses Tier, das an der Decke klebt und ein dunkles (erotisches) Geheimnis bewahrt, die die Erzählerin (Banafshe Hourmazdi) ihrer Mutter nicht gestehen will. Man kann es sich als eine Kreatur aus einem Film von David Cronenberg vorstellen: „Das Geständnis trägt den Wert einer sich erfindenden Geschichte im Körper eines immer weiter wachsenden Tieres.“
Direkter wird das Thema Sex, das schließlich das Motto der Themenwoche ist, erst im letzten Stück der Zärtlichkeiten-Anthologie verhandelt. In Theresia Enzensbergers Stück „Schneckensex“ (mit Abak Safaei-Rad und Leonie Benesch) geht es um darum, was Tigerschnegel, Napfschnecken und die blattförmige Meeresschnecke Elyisa chlorotica so treiben. Blöd nur, dass die Biologin ihre Forschungsarbeit mit nach Hause nimmt, was bei ihrer Freundin auf wenig Gegenliebe stößt. Ebenso beschwert sie sich darüber, dass die schleimigen Forschungsobjekte auch noch gegendert werden: „wie creepy diese ständige Anthropomorphisierung ist.“ „Schneckensex“ ist eines der wenigen Stücke, in der Zärtlichkeit mit Humor zusammengedacht wird. Sonst hört da der Spaß auf.
In „Zwei Freundinnen im Urlaub“ von Jakob Nolte (mit Britta Steffenhagen und Mira Partecke) wird mit dem Mietwagen ein Hund totgefahren und die Zärtlichkeit äußert sich im Bedürfnis ihn zu begraben. Angenehm beiläufig erzählt Miku Sophie Kühmel in „Sind wir schon da?“ von der Beziehung eines Fernfahreres (Axel Prahl) zu seiner kleinen Tochter (Vernesa Berbo), die zunächst noch neben ihm im Führerhaus sitzt und später als Studentin (Amina Merai) die Nähe zu ihm aufrechterhält. Eine freundschaftliche Beziehung unter Männer gibt es in Fikri Anıl Altıntaş’ Hörspiel „Deine Hand ist gut, da wo sie ist“. Denn zärtliche Gesten unter Männer (Taner Şahintürk und Ercan Durmaz) sind in westlichen Kulturen nur bei enthemmten Fußballfans gern gesehen.
Den feministischen Part übernimmt das Stück „Bruderherz“ der queer-migrantischen Aktivist*in Duygu Ağal, das auch „Schwesterherz“ heißen könnte. Ähnlich wie Jakob Nolte geht es um eine Autofahrt, bei der es aber nur zu einem Beinahe-Unfall ohne Tote kommt. Der einzige sprachliche Unfall besteht darin, dass für die 12-minütige Autofahrt eine Playlist „kuratiert“ wird. Die Stimme von Aysima Ergün pendelt permanent durchs Stereopanorama und das ist ein eher simpler Regieeinfall für eine fluide Identität.
„Zärtlichkeit ist unsere Sprache obwohl wir das Wort hassen, weil es so viel meint und nichts über die Lippen bekommt“, sagt die Erzählerin und das korrespondiert mit einem Satz aus dem Hörspiel von Senthuran Varatharajah: „Der Mensch, den wir lieben, ist der abwesendste Mensch von allen, weil er nie nah genug sein kann, weil er immer zu weit entfernt ist.“
Es ist nicht nur die Schnecke, die sich durch die zehn hörenswerten Stücke schlängelt, die eine Verbindung zwischen den verschiedenen Perspektiven auf das Phänomen Zärtlichkeit schafft, es sind auch Konzepte von Nähe und Ferne, Durchlässigkeit und Verletzlichkeit, die sich durch die sehr unterschiedlichen Stücke zieht.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 20.07.2023
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