Verblödungszusammenhänge

Rolf Cantzen: Dummheit – eine vorsichtige Annäherung

DLF, 15.01.2023, 20.05 bis 21.00 Uhr

„Die eigentliche Konfliktlinie in unserer Welt verläuft nicht zwischen gut und böse, sondern zwischen klug und blöde“, sagt der Philosoph Michael Schmidt-Salomon in Rolf Cantzens vorsichtiger Annäherung an das Phänomen mangelnder Urteilskraft zwischen Nobilitierung und Moralisierung.

Ihre Unendlichkeit ist ebenso sprichwörtlich wie die des Universums, ihre Unbesiegbarkeit, gegen die selbst Götter machtlos sind, ist durch Schiller belegt. Robert Musil hat sich 1937 mit ihr beschäftigt ebenso wie Jose Ortega y Gasset ein paar Jahre früher. Ein bisschen Namedropping schadet nicht, wenn es um die „Dummheit“ geht, sagt Rolf Cantzen in seinem 55-minütigen Radiofeature, das er als „vorsichtige Annäherung“ untertitelt hat.

Wie sich aber einem Phänomen annähern, dass begrifflich kaum zu fassen ist. Als Gewährsleute hat sich Cantzen den Kulturkritiker Georg Seeßlen hinzugeholt, der zusammen mit Markus Metz auch des Öfteren den sonntäglichen Freistil-Sendeplatz des Deutschlandfunks (Redaktion: Klaus Pilger) mit klugen Features bespielt. 2011 haben die beiden zusammen das einschlägige 770 Seiten starke Buch „Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität“ veröffentlicht.

Seeßlen sieht den Begriff der Dummheit eher entspannt. In jeder Sprache seien die Begriffe zueinander offen: „dumm, naiv, blöd, idiotisch, verrückt, doof, denkfaul, dusselig, beschränkt“ ebenso wie „klug, schlau, intelligent, clever, vernünftig, weise, reflektiert, kritisch“. Wichtig sei es, die Verblödungszusammenhänge zu erkennen, in denen man arbeite. „Blödmaschinen“ sind nach Seeßlen und Metz soziale Maschinen, die den Menschen prägen und in ein nützliches Mitglied der Gesellschaft verwandeln: „Vorne kommen Wünsche, Träume, Fantasien, Ideen, Erfahrungen rein, und hinten kommen dann Modelle und Mythen und Moden und Anschauungen heraus.“

Im liberalen, marktwirtschaftlichen, warenproduzierenden, kapitalistischen Wirtschaftssystem werden soziale Maschinen, zu denen auch Schulen, Religionen und Militär gehören zu Blödmaschinen, die im Wesentlichen eines produzieren: Mehrwert und Profit. Cantzen weiß natürlich, dass er als Teil der Blödmaschine „Massenmedien“ Seeßlens und Metz‘ differenzierte Ausführungen auf eine wohlfeile Informations- und Unterhaltungsware reduziert – und er sagt das auch. Aber, und das ist keine Kleinigkeit, es gelingt ihm auch.

Abschalten kann man diese Blödmaschinen leider nicht, denn die sind ja nicht dumm und wissen, dass sie wohldosiert kritisches Denken als Schmierstoff brauchen, um nicht einzurosten, das heißt anpassungsfähig zu bleiben, um ihre Produktionsziele zu erreichen. Dummheit und Kritik ergäben ein Nullsummenspiel – als würde man gleichzeitig Aufputsch- und Schlafmittel bekommen, fasst Seeßlen das ins Bild.

Doch bevor Cantzen dieses Fazit zieht, hat er „dumm“ etymologisch vom germanischen „tumb“ = stumm abgeleitet und „töricht“ von taub: „Der Törichte ist der Nicht-Hörende, der Dumme der Nicht-Sprechende.“ Weshalb noch Lessing die Fische für das dümmste Vieh hielt, weil sie nicht sprechen können. Cantzen ergänzt noch das „Stupide“, das im Englischen und Französischen ins Wortfeld der Dummheit gehört, aber vom Lateinischen „stupor“ für Erstarrung und Betäubung kommt. Daraus folgt, dass dumm ist, wer nicht im lebendigen Austausch mit seiner sozialen Mitwelt steht.

Wenn es also nicht das Kritische ist, was die Blödmaschinen der Gesellschaft ausschalten kann, hilft ja vielleicht die Verweigerung. Cantzen und seine Gesprächspartner – das sind neben Georg Seeßlen noch die Philosophen Michael Schmidt-Salomon und Jürgen Große – sind da skeptisch. Die heilige Einfalt, mit der seit dem Apostel Paulus die geistig Armen ins Himmelreich gelockt werden, degeneriert laut Schmidt-Salomon schnell zur „Religiotie“. Als „Vollreligioten“ bezeichnet er diejenigen, die „schon beim Anblick einer Karikatur in die Luft gehen oder, schlimmer noch, andere in die Luft sprengen“.

Aber auch eine weltliche Moral, besonders wenn sie im Gestus der aufrichtigen Empörung daherkommt, kann ziemlich dumm sein. „Ist das Hirn zu kurz gekommen, wird sehr gern Moral genommen“, fasste das der Satiriker Wiglaf Droste in einen Zweizeiler. Weil aber Intelligenz eine moralische Kategorie ist, wie Adorno meint, wird die Verachtung von moralischem Handeln, wie sie gegenwärtig von einem sich selbst als konservativ-liberal empfindenden Justemilieu betrieben wird, umso degoutanter.

Cantzen bringt in seinem Feature, das man aus begrifflichen Gründen wohl eher ein Feuilleton nennen sollte (wäre der Begriff nicht so heruntergekommen), eine Fülle an biblischen Belegen und zieht die Linie über Erasmus von Rotterdam bis ins Heute. Aber dass Vielwisserei ein Indiz für Dummheit ist, weiß er natürlich auch, und so hält er auf dem schmalen Grat, an dessen Abhängen unterschiedliche Arten von Dummheit lauern, seine Balance.

Die Klanggestaltung von Regisseur Philippe Brühl, und das Sprecherensemble (Bettina Kurth, Michael Evers, Matti Kraus und Lisa Hrdina) geben dem Stück von Rolf Cantzen einen Fluss, bei dem man gar nicht mehr merkt, wie viel Material an einem vorbeizieht. Vielleicht gibt es doch ein kluges Leben im blöden. Wer Rolf Cantzens Radiostücke hört, braucht jedenfalls die Hoffnung nicht vorzeitig aufzugeben.

Jochen Meißner – KNA, 19.01.2023

Rolf Cantzen: „Dummheit – eine vorsichtige Annäherung“ im DLF

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