„Unterschiedliche Sensibilitäten für Mathematik“ – Eine Radioautorin wird Grundschullehrerin
Susanne Franzmeyer: Back to University – Mein persönlicher Einsatz gegen den Lehrkräftemangel
DLF Kultur, Sa, 19.10.2024, 18.05 bis 19.00 Uhr
DLF, So 20.10.2024. 20.05 bis 21.00 Uhr
Bei einem zu erwartenden Rentenanspruch von EUR 214,36 hat sich die Radioautorin Susanne Franzmeyer mit Mitte 40 entschlossen, umzusatteln – auf Grundschullehrerin. Wie das geht, erzählt sie in einem unterhaltsamen Feature, in dem man nebenbei erfährt, was im gegenwärtigen Bildungssystem alles schiefläuf.
Susanne Franzmeyer ist eine talentierte Radioautorin, die nicht nur Features über Entmietungen und Shoppingwelten, über Prokrastination und Flow gemacht hat, sondern die auch unter dem Namen Susius ein Hiphop-Album veröffentlicht hat. Nicht zuletzt hat sie mit ihren „Stilübungen, musikalisch“ (Dokumentation) für die inzwischen eingestellten „Wurfsendungen“ von Deutschlandradio Kultur ein Konzept von Oulipo-Gründer Raymond Queneau in die radiophone Gegenwart geholt. Das alles hat ihr insgesamt einen Rentenanspruch von 214,36 Euro eingebracht. Deshalb hat sich die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern 2022 entschlossen, mit Mitte 40 noch einmal umzusatteln – auf Grundschullehrerin. Und weil sie weiß, wie es geht, lässt sie uns in ihrem 54-minütigen Feature „Back to University – Mein persönlicher Einsatz gegen den Lehrkräftemangel“ daran teilhaben.
Aber Lehrkräftemangel, gibt es den überhaupt? Die einen (Lehrer, Hochschulprofessoren, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft), sagen so, die anderen (etwa die Bertelsmann-Stiftung) sagen so. Seit Jahrzehnten immer hin und her. Mal wird Schulabgängern empfohlen, auf Lehramt zu studieren, mal dringend davon abgeraten. Manche halten die Lehrerausbildung für eine Infrastrukturaufgabe, andere meinen darauf eher wie im betriebswirtschaftlichen Schweinezyklus reagieren zu können. Doch bevor Susanne Franzmeyer uns ihre Rechercheergebnisse präsentiert, muss sie sich erst mal mit ihrem Alter Ego auseinandersetzen, das von ihrer Entscheidung eher so mittel begeistert ist.
Lehrerin, Autorin, Regisseurin
Susanne Franzmeyer agiert in ihrem Stück, dessen Gegenstand sie ist, auch noch in einer Doppelrolle als Autorin und Regisseurin. Das erlaubt ihr eine gewisse Distanz zu sich selbst, die nicht unkomisch ist. Diese Distanz ist auch nötig, denn das Quereinsteigerprogramm des Berliner Senats mit Zertifikatsstudiengängen und dem Quereinsteiger-Master, kurz Q-Master genannt, ist durchaus anspruchsvoll und umfasst für Hochschulabsolventen ein zusätzliches Vollzeitstudium von zwei bis drei Jahren. Und wie anspruchsvoll das selbst für die Sekundarstufe 1 ist, die in Berlin und Brandenburg bis zur sechsten Klasse geht, wird in Franzmeyers Feature geradezu fühlbar.
Da ist der satirische Song des inzwischen 96-jährigen amerikanischen Singer-Songwriters (und Mathematikers!) Tom Lehrer „New Math“ ein „comic relief“, ebenso wie die Uptempo-Swing-Nummer „Der Lehrer“ von Comedian Chris Böttcher: „Es gibt so unglaublich schöne Berufe hier auf Erden, doch du musst ausgerechnet Lehrer werden! Warum bist net Kammerjäger, Mülltonnenentleerer? Na, du brauchst es härter: Du bist Lehrer!“
Humor und Didaktik
Humor beweist auch Bernd Wollring, Professor für Didaktik der Mathematik im Ruhestand, der immer noch an zwei Universitäten künftige Lehrer ausbildet. Vom Bauingenieur bis zur Theaterpädagogin ist das Feld der Studierenden sehr heterogen und alle haben eine jeweils „unterschiedliche Sensibilität für Mathematik“, wie Wollring diagnostiziert. Da wird statt im Dezimalsystem im Oktalsystem gerechnet, um zu verdeutlichen, wie schwierig es nicht nur für Kinder ist, sich komplett fremde Lerninhalte anzueignen und eigene Lernstrategien zu entwickeln.
Die Autorin sieht sich einer permanenten Überforderung ausgesetzt, die dadurch nicht leichter wird, dass Vollzeitstudium eben bedeutet, nicht nebenbei noch tageweise einer Erwerbsarbeit nachgehen zu können. Zwar gibt es vom Berliner Senat ein Stipendium von 500 Euro, aber eben sehr viel mehr Studierende als Stipendien.
Susanne Franzmeyer gelingt es, dass man zugleich als Hörer mit ihr mitfiebert und außerdem einiges über die Misere des Bildungssystems erfährt. Obwohl sie im Mittelpunkt ihrer eigenen Erzählung steht, stellt sie sich nicht vor ihren Gegenstand, der sie ja selbst ist – ein Paradox. Das unterscheidet sie von vielen nichtfiktionalen Podcast-Hosts, die bei egal welchem Thema immer sich selbst in den Vordergrund drängen. „Back to University“ ist also, der klassischen Bildungskonzeption folgend, belehrend und unterhaltend zugleich. Am Ende des Stückes hat die Autorin ihr Zertifikatsstudium geschafft, ist auch für den Q-Master angenommen worden – und hat sogar das Lehramtsstipendium bekommen.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 18.10.2024
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