Über das Sterben hinweg
Uwe Dierksen: Hirngespinste // Pipedreams
DLF Kultur, Fr, 23.08.2024, 0.05 bis 1.00 Uhr
Der Komponist und Posaunist Uwe Dierksen hat sein Stück „Hirngespinste // Pipedreams“ als inszeniertes Konzert zwischen Stillstand und Raserei untertitelt. Was im Januar in der Frankfurter Volksbühne über die Rampe ging, gibt es jetzt als Hörspiel.
Die erste Ansage macht David Bennent. „Nicht nur um eine Stunde geht es hier, verhandelt wird über seinen Status für alle Zeiten. Über den Zustand, den alle Sterblichen jederzeit erwarten müssen und der nach dem Tod sich nicht mehr ändert. Deswegen sind auch Mythen der Unterwelt nichts anderes als Hirngespinste, Projektionen eines auf der Erde falsch gelebten Lebens.“ Dann bricht zwar nicht gleich die freejazzige Hölle los, aber doch bald.
In Uwe Dierksens inszeniertem Konzert „Hirngespinste // Pipedreams“, das am 27. Januar in der Frankfurter Volksbühne Premiere hatte und jetzt in einer 52-minütigen Hörspielversion am 23. August ab 0.05 Uhr auf dem mitternächtlichen Klangkunsttermin von Deutschlandfunk Kultur zu hören ist, geht es um letzte Dinge und kleine Katastrophen.
Dieser Quatsch mit dem Sterben 21.
Da wütet die Musik zu einem eher abgeklärten Text von Wolfgang Herrndorf; „Vielleicht mache ich mir unzulässige Hoffnungen. Oder ich bin wirklich über diesen Quatsch mit dem Sterben hinweg“, heißt es in dessen Text, als er darauf wartet, dass die Diagnose mit seinem Todesurteil aus dem Faxgerät kommt. Synkopisch geht es weiter, wenn die Schauspielerin und Sängerin Franziska Junge die Texte von Wolfgang Herrndorf, Michael Krüger sowie die von Uwe Dierksen und seiner Frau Barbara rezitiert und singt – wenn sie nicht gerade einen vokalisierten Dialog mit Dierksens Posaune führt.
Klassisch anmutende Melodiebögen treffen dabei auf Tonartwechsel wie im Schlager. Die E-Gitarren von Steffen Ahrends und Lou Dierksen (Uwe Dierksens Sohn), fressen sich durch Anleihen bei südamerikanischen Rhythmen. Pierre Dekker hat am Kontrabass einen beeindruckenden Soloauftritt und David Haller am Schlagzeug treibt das alles voran während Vitalii Kyianytsia seinem Klavier neutönerische wie konventionelle Klänge entlockt. Und enden tut das alles in einem veritablen Musical-Finale, einem Bonnie&Clyde-Duett und einer integrierten Zugabe, die zu einer Einstellungsänderung auffordert („Change your attitude“). Dierksen, seit 1983 Posaunist beim Frankfurter „Ensemble Modern“, bedient sich so bei verschiedensten Genres der Popmusik und formt sie um, ohne sie billig zu ironisieren.
Tonale Kontraste
Der zentrale Text des Hörstücks ist „Das Gelbgesicht“ von Uwe Dierksen selbst. Es ist das giftige Totenkopfsymbol auf den Infusionsbeuteln der Chemotherapie, das zerknautscht und faltig entsorgt wird, „damit das Gift nicht den Eimer zerfrisst“. Jenes Gift, dass das sich durch sein Gewebe fräsen soll, um ihm noch ein paar Neurodendriten für ein bisschen Leben zu lassen.
Dass man der Schwere des Themas mit einem gesteigerten Formwillen entgegentreten kann, zeigen die Texte von Michael Krüger, der seine kaputte Espressomaschine beklagt: „Ein sprachbegabter Apparat, der gurgeln, ächzen, stöhnen, zischen und fiepen konnte“, wie auch die von Wolfgang Herrndorf. Herrndorf beschreibt einen Herrn H., der im Krankenhaus mit seinem Entlüftungsschlüssel sämtliche Heizungen entlüftet und auch vor der Wurst nicht haltmachen will, obwohl die doch ab Werk vorentlüftet geliefert wird.
Ob man die Zeit spürt, so, wie man den Sturm spürt und die Hitze und das Wasser, fragte sich Michael Krüger im Prolog des Hörspiels. Man spürt sie im Wechsel der Rhythmen, Texte, Melodien und manchmal ist sie erfüllt – selbst wenn es nur Hirngespinste, oder auf Englisch „pipe dreams“ sind.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 21.08.2024
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