Schwer besorgt
René Pollesch: Heidi Hoh 3 – Die Interessen der Firma können nicht die Interessen sein, die Heidi Hoh hat
Deutschlandradio Berlin, Mo 7.4.2003, 0.05 bis 1.00 Uhr
Vielleicht habe ihm niemand gesagt, dass die New Economy Schnee von gestern sei, unkte der Berliner „Tagesspiegel“ im „Früher-war-er-besser“-Ton anlässlich der jüngsten Premiere aus René Polleschs geradezu fordistischer Fließbandproduktion. Dem NDR hat das offensichtlich auch niemand gesagt, denn der hat nun zusammen mit dem Deutschlandradio Berlin die zwei Jahre alte Heidi Hoh-Trilogie komplettiert. In ökonomischen Zeiträumen gedacht eine lange Zeit, und gemessen an der Produktivität Polleschs, die sich derjenigen des viel zu früh verstorbenen Werner Schwab nähert, auch. Wie Schwab konstruiere Pollesch berauschende Textkaskaden in Storylines, die man sich reinziehen könne wie Kokain, meinte die „Welt“. Während Schwab sein Weltverhältnis in eine eigene Kunstsprache fasste, dealt Pollesch mit Theorie. Und zwar mit Theorie als Theorie, ohne sie in Handlung oder Dialoge zu übersetzen.
Orientierungspunkte in Pollesch Stücken sind häufig Filmmotive. Für „Heidi Hoh 3“ ist das in erster Linie Bernhard Sinkels Sozialkomödie „Lina Braake – oder die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat“ (1974), außerdem Ridley Scotts „Blade Runner“ (1982) und Martin Ritts „Norma Rae“ (1979). Lina Braake und Norma Rae wehren sich gegen eine Ökonomie, in der Menschen nur als Ressourcen vorkommen. Bei Ridley Scott kommen die Ressourcen als Menschen vor, nämlich als Replikanten, die ab und zu ein wenig außer Kontrolle geraten.
Auch Heidi Hoh weiß nicht, ob sie ein Replikant ist oder nicht. Ihr Gesicht ist ein soziales Display, eine Plattform, auf der Geschäfte getätigt werden. Wie Norma Ray will Heidi Hoh eine Gewerkschaft, aber die könnte sie nur gegen sich selbst gründen. Und so brüllt sie ihre Verzweiflung in der Betroffenheitsformel heraus: „Ich bin schwer besorgt über den Kapitalismus auf meiner DNS“. Je unangemessener die Formulierung, desto komischer ihr Effekt.
Die Pausen, die René Pollesch seinen Hörern zwischen dem Geschrei der Akteurinnen (Christine Groß, Nina Kronjäger, Claudia Splitt) gönnt, sind mit Sentimentalpop à la Carpenters gefüllt und/oder werden inhaltlich relevant, wenn z.B. „Big in Japan“ von Alphaville wörtlich übersetzt wird, was als Beleg für den Zusammenhang von Arbeit und Droge dienen soll. Denn seit der Mensch nicht mehr zu entfremdeter Arbeit als Anhängsel von Maschinen gezwungen wird, sondern sich zur Gänze einzubringen hat, liefert die Geschäftsleitung die Drogen direkt an den Schreibtisch: „Früher arbeiteten wird wie Roboter, heute arbeiten wir wie Junkies.“ Folgerichtig gibt es am Schluss eine Brachial-Karaokeversion des Abba-Hits „Waterloo“ (Couldn’t escape if I wanted to), bei der sich die Akteurinnen noch einmal verausgaben können.
Neben Hitparade und Livereportage hat Andreas Ammer einmal die fünfhundert Jahre alte Medientechnik der Oper als paradigmatisch für ein ideales Hörspiel beschrieben. Der Medientechniker René Pollesch setzt diese Mittel effektvoll ein. In eines seiner neueren Theaterstücke, der sehr radiophonen „Stadt als Beute“, hat er eine Heroin-Oper eingefügt, und in einem anderen wird sogar geflüstert. Trotzdem funktionieren die Schreiorgien als Kennzeichen der totalen ökonomischen Mobilmachung auch noch in Heidi Hoh 3. Wie bei jeder Droge ist auch bei Pollesch die bewusstseinserweiternde Wirkung eine Frage der Dosis.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 15/2003
Nachruf von Fabian Hinrichs auf René Pollesch (* 29.10.1962 – † 26.02.2024).
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