Pop-Trash
Heute, am 24. Oktober 2020, wäre Christoph Schlingensief 60 Jahre alt geworden. Der WDR hat ihm deshalb diese Woche seinen täglichen Hörspielsendeplatz gewidmet. Mit dabei ist natürlich sein Stück „Rocky Dutschke ’68“. Ein „game changer“ in der Hörspielgeschichte und als solcher nur vergleichbar mit beispielsweise „Fünf Mann Menschen“ von Ernst Jandl und Friederike Mayröcker oder „Die Befreiung des Prometheus“ von Heiner Müller und Heiner Goebbels. Hier meine Rezension anlässlich der Ursendung am 7. Januar 1997 für die Funkkorrespondenz (heute: Medienkorrespondenz).
Christoph Schlingensief: Rocky Dutschke ’68
WDR 1Live, Di 07.01.1997, 23.00 bis 23.50 Uhr
„Wenn man einen gesehen hat, hat man alle gesehen“ und „Das soll ein Skandal sein?“ sind die häufigsten Statements zum jeweils neuesten Film oder Theaterstück von Christoph Schlingensief. Jetzt hat er auf Initiative des WDR (Dramaturgie: Martina Müller-Wallraf) sein erstes Hörspiel gemacht: „Rocky Dutschke ‘68“. Gelegenheit also, genauer hinzuhören und die auf 50 Minuten komprimierte Welt des ewigen Jungfilmers näher zu betrachten.
Schlingensief inszeniert eine fiktive Live-Sendung aus drei Studios. Eines ist für die Exekution der „Redakteurin für Gedenken ohne Schmerzen“ reserviert, in einem zweiten sitzt der Stargast (Wolf Biermann oder Heiner Müller) und im dritten tummeln sich zwölf fiktive Redakteure, als Chaospotential oder als Unruhe in der Uhr, die die Hörspielmaschine am Laufen hält. Schlingensief selbst mischt sich als Moderator und Regisseur überall ein und verbindet mit brillantem Timing die disparaten Ebenen von Auschwitz, ’68 und der deutschen Wiedervereinigung miteinander. Zwischendurch wird das Hörspiel unterbrochen, um für den zweiten Teil als Kaufkassette (für DM 89,-) zu werben. Die selbstreferentielle Ebene wird souverän bis zum Ende durchgehalten. Ein keineswegs neuer Trick, der hier aber nicht der Desillusionierung dient, sondern der Behauptung von Authentizität.
In dem Feature „White Trash – Zündstoff für den Unterleib“ von Gabriele Flessenkemper und Kati Hötger (WDR 1996) hatte Christoph Schlingensief darauf plädiert, Kulturprodukte mit dem „Grünen Punkt“ zu versehen und so für recyclebar zu erklären. Die Wiederverwertbarkeit gerade kulturellen Mülls ist für ihn ein Qualitätskriterium und so wird akustisches Material von alten Filmfanfaren bis „Easy Listening“ aufbereitet, das teilweise schon durch mehrere Revitalisierungszyklen gegangen ist. In diesen kulturell völlig überdeterminierten Horizont bricht Schlingensiefs Ensemble ein, das aus Schauspielern, Behinderten und Laien besteht, die allesamt die beschädigten Existenzen geben, die sie vielleicht selber sind – inklusive des Autors/Regisseurs. Die Entblößung des Privaten, die Vorführung von (vermeintlich) Authentischem ist das eigentliche Skandalon dieser Inszenierungen, weil es den Voyeurismus besser bedient, als er eigentlich bedient werden will. Schlingensief spielt den Reiz einer „Freakshow“ aus, allerdings ohne das eklige Augenzwinkern des Mainstreams bei solchen Inszenierungen. Seine Angriffe sind direkter, distanzloser – und: Er sympathisiert mit seinen Akteuren und denunziert sie nicht.
Zum Trash wird das Stück nicht nur wegen des trivialkulturellen Mülls, mit dem es arbeitet, sondern auch wegen der lustvollen (und komischen) Inszenierung der Bruchstellen in der Montage. Schon der verballhornte Name „Rocky Dutschke“ deutet darauf hin, wie natürlich auch darauf, dass die Biografie des Studentenführers hier nicht in erster Linie interessiert. Durchgehende Erzählstränge wird man bei dieser Verfahrensweise vergeblich suchen.
Stattdessen arbeitet Schlingensief mit anderen Technologien und Erzählstrategien. Wichtige Elemente sind Schocks und Provokationen. Weil diese aber im Medienzeitalter vorwiegend auf ihren Unterhaltungswert reduziert sind, muss Schlingensief zugleich ein wenig gröber und präziser verfahren, um die angestrebte Wirkung zu erzielen. Während des Hörspiels wird die Redakteurin für Gedanken ohne Schmerzen in ihrem Studio vergast, nachdem sie vorher lang und breit ihre Gedenkrituale geschildert hat: „Also, wir fahren jedes Jahr einmal mit den Kindern nach Bergen-Belsen und dann verliest mein Mann die Namen der sechs Millionen getöteten Juden. Ja, das dauert lange. Aber wir haben ja was zu essen mitgenommen und ich koche dann zwischen den Verbrennungsöfen.“
Nun sind solche in hohem Maße politisch unkorrekten Witze noch kein Zeichen von ästhetischer Qualität, aber sie verweisen auf eine weitere Konstante in Schlingensiefs Werk – das Komische. Bisweilen funktioniert es wie im vorliegenden Fall als quasi-neurophysiologische Attacke, die in einer Übersprunghandlung zum Lachen veranlasst. Mal entspringt die Komik heillos absurden Satzkonstruktionen à la Helge Schneider, mal entsteht sie aus hochartifiziellen Parodien. Ein harter und stampfender Sprachduktus wird als „sogenannter Brecht-Stil“ verspottet, der nur entstanden sei, weil es in der DDR weder Vitamine noch Mineralien gegeben habe und so die Hirne vertrockneten.
Trash nur um des Trashs willen wird allerdings schnell langweilig. Es gibt aber ein Ideologem, das Schlingensief von ’68 tatsächlich retten und nicht verwursten will, nämlich den Mythos, dass das Private politisch sei. Als er merkt, dass das Hörspiel aus dem Ruder läuft, verkündet der Moderator, dass ab jetzt keine politischen Inhalte mehr behandelt werden sollen, sondern nur noch die privaten Probleme eines jeden Einzelnen: „Es lebe das private politische Attentat. Es lebe Adelheid Streidel.“ Die geisteskranke Lafontaine-Attentäterin wird für ihn zu einer Ikone der Täter. Rudi Dutschke wird zur Ikone des Opfers eines ebenso privaten Attentats.
Denn wie viele Revolutionäre sehnt sich Schlingensiefs Rudi nach einem Verräter, der seine gescheiterten Ansprüche beendet, um danach erlöst zu werden. Schlingensief denkt dies gänzlich unironisch. Kein Gedenken ohne Schmerzen, ohne Fegefeuer kein Paradies. Ähnlichkeiten zu Heiner Müller sind unübersehbar. Von ihm entlehnt er auch die Quintessenz: „Ein wahres Kunstwerk ist wie das Vollbild einer guten Krankheit, es ist unheilbar.“ Und ebenso programmatisch wird Schlingensief selbst: „Nur die Lust wird siegen.“ In diesem Sinne: ein geiles Hörspiel.
Funkkorrespondenz 3/1997
–
Schreibe einen Kommentar