Party der Permutationen
Hermann Kretzschmar: Aristo Games
SWR Kultur, Sa, 06.07.2024, 23.03 bis 0.00 Uhr
Was haben Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Ort, Zeit, Lage, Haltung, Tun und Leiden gemeinsam? Es sind die zehn aristotelischen Kategorien, die der Musiker und Komponist Hermann Kretzschmar zu einem höchst vergnüglichen Hörstück verarbeitet hat.
Mit den Kategorien ist es so eine Sache. Bei Kategorienfehlern lässt man sich ungern ertappen, weil dann die ganze logische Argumentation in sich zusammenfällt. Auch konsequent Kants kategorischem Imperativ zuwiderzuhandeln, bringt nur kurzfristig Erfolg. Kurz, man sollte sich die Techniken und Verfahrensweisen, mit denen man am besten mit kategorialen Begriffen umgeht, selbst einmal genauer ansehen.
Gut, dass das Aristoteles schon vor 2300 Jahren erledigt hat. Aber die „Aristo Games“, das neue 56-minütige Hörspiel des Komponisten und Musikers Hermann Kretzschmar (u.a. Pianist beim „Ensemble Modern“), zeigen, wie viel Witz, Komik und Tragik man aus den zehn aristotelischen Kategorien „Substanz“, „Quantität“, „Qualität“, „Relation“, „Ort“, „Zeit“, „Lage“, „Haltung“, „Tun“, und „Leiden“ destillieren kann, wenn man sie nicht auf dem logischen Seziertisch examiniert, sondern sie mit literarischen und musikalischen Mitteln zum Fliegen bringt.
Kretzschmar hat sich zu diesem Zweck Schützenhilfe bei Autoren wie Joseph Brodsky, Hans Magnus Enzensberger, Stefan George, Robert Musil, Hans Jürgen von der Wense und dem Mathematiker Christian Spannagel geholt. Letzterer ist für die Kategorie Quantität zuständig, redet aber anhand des Gedankenexperiments „Hilberts Hotel“ über verschiedene Unendlichkeiten. Denn das Hotel des Mathematikers David Hilbert hat zwar unendlich viele Zimmer – aber auch unendlich viele Gäste. Was passiert nun, wenn ein Reisebus mit ebenfalls unendlich vielen Gästen ankommt? Die genannten Autoren sind auch nicht die einzigen, die in Kretzschmars Stück vorkommen. Gertrude Stein schaut kurz vorbei und auch Walter Benjamin ist mit von der Partie, die eine Party der Permutationen wird.
Gesungene Philosophie
Weil Philosophie erst richtig ernst wird, wenn man sie singen kann, erledigt den Gesangspart der Chor „Frankfurter Kantorei“ unter Leitung von Winfried Toll. Leslie Malton gibt eine enervierende Hörspielregisseurin, die immer jene maximal irritierende Zeitspanne zu spät „Läuft!“ in den Aufnahmeraum plärrt, wenn der Sprecher (Jeremy Mockridge) schon angesetzt hat. Überhaupt ist es kein gutes Zeichen, wenn dem Sprecher mehr am Text liegt als der Regisseurin. Denn die pfuscht gerne mal in den Texten von Aristoteles rum – besteht aber andererseits auf dem Unterschied von Wesen und Ding. Schon das ist amüsant, weil die Dialoge nicht auf Pointe gesprochen werden.
„Das, was gesagt wird, kann entweder in Verknüpfung oder ohne gesagt werden. Von den ohne Verknüpfung gesprochenen Worten bezeichnen die einzelnen entweder ein Ding / ein Wesen oder eine Größe, oder eine Beschaffenheit, oder eine Beziehung, oder einen Ort, oder eine Zeit, oder einen Zustand, oder ein Haben, oder ein Tun, oder ein Leiden“ – so weit, so aristotelisch. Es zeugt von großer Kunstfertigkeit, wie Hermann Kretzschmar die einzelnen Kategorien umsetzt, indem er sie mit literarischen Texten belegt und/oder konfrontiert.
Die erste Kategorie „Ding“ wird mit der ausführlichen Beschreibung einer bibliophilen Ausgabe der „Elegies – Erotische Elegien“ von John Donne aus einem Online-Antiquariat für 580 Euro (zzgl. Versand) belegt – inklusive eines Fehlers in der Beschreibung, der jeden Buchliebhaber triggert: „Gesetzt wurde auf der 12-Punkt Dante-Antiqua Monotype Bleisatz“ – natürlich muss es „aus“ statt „auf“ heißen. Die Ausgabe ist übrigens immer noch erhältlich. John Donne wird uns in der achten Kategorie „Tun“ wieder begegnen, und zwar in Joseph Brodskys großer Elegie an John Donne („John Donne ist eingeschlafen“), zu der der Chor zischelt, Mikrofone ein- und ausgesteckt werden und auf verschiedenen Instrumenten musique concrete gemacht wird.
Das friedlichste Werk des Menschen
Überhaupt scheint sich die Lyrik besonders zu eignen, mit kategorialen Fragen umzugehen. Stefan George kommt in der Kategorie „Ort“ mit dem Gedicht „Nach der Lese“ aus dem Jahr 1897 zu Wort – und man glaubt kaum, wie Caroline Junghanns, zu Snare-Drum, leicht verzerrter Gitarre und elektronischen Streichern dem Text mit seinem eher öden Reimschema ABAB eine Rhythmik abzutrotzen vermag, die eher an gegenwärtigen Rap als an die Dichtung der Jahrhundertwende erinnert.
Modernere Lyrik kommt von Hans Magnus Enzensberger. In seinem Gedicht „Die Scheiße“ aus dem Jahr 1964 bemüht er sich um die Ehrenrettung jener Substanz, die von allen Werken des Menschen vermutlich das friedlichste ist: „Warum besudeln wir denn / ihren guten Namen / und leihen ihn dem Präsidenten der USA, / den Bullen, dem Krieg / und dem Kapitalismus? […] Sie, die wir ausgedrückt haben, / soll nun auch noch ausdrücken / unsere Wut?“
Fehlt noch das Gegenwärtigste, das man auch schon auf das Jahr 1935 datieren kann: Walter Benjamins Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ wird durch den permutativen Wolf gedreht, wie es 1969 schon Georges Perec in seinem Hörspiel „Die Maschine“ mit „Wanderers Nachtlied“ von Goethe getan hatte. Heraus kommt: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit technisiert das Kunstwerk der alten Zeitreproduktion“, was permutiert wird zu „Das Kunstwerk reproduziert seine alternde Zeittechnik“ und endet mit „Werktechnik reproduziert alternd Kunstzeit.“ Die Kategorie dafür ist die Nummer drei: „Beschaffenheit“. Doch inzwischen sind wir nicht mehr im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, sondern in dem der technischen Generierbarkeit von Kunstwerken und so reimt sich im Hörspiel „Ka-te-go-rie“ auf „Chat-G-P-T“.
Auf den Leim gegangen
Die letzte Kategorie „Leiden“ wird mit einem von kafkascher Ausweglosigkeit geprägter Text belegt, der aber gar nicht von Kafka ist, sondern von Robert Musil. In „Das Fliegenpapier“ wird ebenso formvollendet wie drastisch beschrieben, welche Auswirkungen es auf ein Lebewesen hat, dieser perfiden Falle auf den Leim gegangen zu sein. Hier könnte man schwer und bedeutungsvoll enden und in der Tat startet auch schon die Abmoderation des Hörspiels – aber es kommt ja noch ein Epilog, eine Coda, dazwischen und das letzte Wort hat natürlich Aristoteles – auf Griechisch.
Dass Hermann Kretzschmars „Aristo Games“ mit einem nur dreiköpfigen Ensemble ausgekommen ist, mag man kaum glauben. Caroline Junghanns, Leslie Malton und Jeremy Mockridge sind in der Variabilität ihrer Stimmen und der Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung mit dem Text – auch und besonders in den komischen Passagen – kaum zu überschätzen. Der Chor, der die Kategorien singt und die „Aristo-Band“ (Giorgos Panagiotidis als Aristoteles an Violine und E-Violine, Steffen Ahrends an Gitarre und E-Bass, Yuka Ohta an Perkussion, DrumSet und singender Säge, sowie Hermann Kretzschmar am Klavier), finden für jede Kategorie unterschiedliche Ausdrucksformen und illustrieren die Spannbreite des Stücks vom hohen Ton bis zum flachen Witz auch auf akustischer Ebene.
„Aristo Games“ zeigt, was das Hörspiel kann und was das Kulturradio könnte, wenn es nicht den Kategorienfehler machte, sich in der Kategorie „Leiden“ das Programm von einer Marketingabteilung diktieren zu lassen, statt in der Kategorie „Tun“ seine Chance zu suchen. Wenn man in diesem Jahr nur ein einziges Hörspiel hören möchte, „Aristo Games“ wäre keine schlechte Wahl.
P.S. Im Anschluss an das Hörspiel konnte man auf dem „Ohne-Limit“-Termin von SWR Kultur noch „32 Scansonaten – revisited“ hören, in denen Hermann Kretzschmar sämtliche Beethoven-Sonaten musikalischen Rechenanweisungen aussetzt, sodass sie in zwei Stunden gespielt werden können. Außerdem gibt es in der ARD-Audiothek noch ein Gespräch mit Hermann Kretzschmar zu seinem Hörspiel.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst 11.07.2024
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