Multiperspektivisches Diorama
Frank Witzel: Bruchstücke – Ein Hölderlin-Alphabet
HR 2 Kultur, So 20.9.20, 22.00 bis 23.30 Uhr
Es ist oft nicht verkehrt, am Anfang erst einmal eine ordentliche Ansage zu machen. In Frank Witzels neuem Hörspiel „Bruchstücke – Ein Hölderlin-Alphabet“ (nachhören) besorgt das eine männliche Schauspielerstimme:
„Wenn man mit den Fingern darauf zeigen muss, dann war es kein gutes Stück. Ich meine, wenn man sich so didaktisch verhalten muss, die Programmidee dem Publikum vermitteln muss, ist das schlecht. Ich finde doch ganz gut, wenn die Leute eben nicht wissen, was dann kommt von Müller, von Kafka oder von Hölderlin oder von sonst wem. Dann ist man offener, denn jeder hat eine Klischeevorstellung bei einem Namen.“
Auch wenn nicht verraten wird, wer die pädagogische Didaxe in den Künsten so vehement ablehnt, so hat man doch eine Ahnung, wer die einleitenden Sätze gesprochen haben könnte. Denn wenn es darum geht, bekannte Texte (wieder) fremd zu machen, dann fällt der Verdacht schon auf jemanden, dem man so einen „Sound“, eine solche Haltung und derartige mit Pausen ins Unreine gesprochene Formulierungen zutraut. Natürlich ist der Satz von genau so einem: dem DDR-Dramatiker Heiner Müller aus einem Interview von 1988. Später im Hörspiel wird von ihm noch zu reden sein.
Doch konsequenterweise wird im gesamten Hörspiel die Herkunft von verwendeten Texten nur angedeutet. Denn Frank Witzel geht es hier nicht um ein Erklärstück über eine literaturhistorische Rezeptionsgeschichte Hölderlins, bei dem man permanent die Absicht spürte und verstimmt wäre. Ebenso wenig geht es um ein vergeheimnissendes Raunen, das Tiefe vortäuschen soll, wo doch meist nur Hochstapelei zu finden ist. Um Texte von Klischeevorstellungen zu befreien und so zu verfremden, dass sie wieder in ihrer Eigenwelt erfahrbar werden und nicht ins Beliebige abdriften, braucht es eine Rahmung, einen Kontext und eine Struktur, die es ermöglichen, ein neues Verständnis zu entwickeln.
Die dreifache Rahmung lässt sich schon am Titel des Hörspiels ablesen. Es geht um etwas Fragmentarisches (Bruchstücke), etwas autor-biografisches (Hölderlin, vor 250 Jahren geboren) und eine zeichentheoretische Ordnung (das Alphabet). Innerhalb dieser Rahmungen gibt es ein paar thematische Komplexe wie das Leben des Dichters, den Ödipus-Mythos und eine Hölderlinmaschine. Außerdem kommen der Experte Peter Trawny, Leiter des Heidegger-Instituts an der Universität Wuppertal, und der Lyriker Ulf Stolterfoht im O-Ton vor. Es erwartet einen also endlich mal wieder eine solide Überforderung mit Texten, von Walter Benjamin bis Robert Walser, die alle einen mehr oder weniger direkten Bezug zu Hölderlin haben. Texte von Frank Witzel sind natürlich auch noch dabei, der nicht nur als Autor, sondern auch als Komponist für die Ausgestaltung des Hörspiels verantwortlich ist.
In der der Beschreibung liest sich das viel trockener, als es klingt, denn Regisseur Leonhard Koppelmann versteht es, die Komplexität von Inhalt und Form so einfach wie möglich zu transportieren – aber eben auch nicht einfacher. Friedrich Hölderlin (Moritz Pliquet), Heiner Müller (Peter Schröder), Friedrich Glauser und Robert Walser (beide Üeli Jäggi) bekommen jeweils eigene Stimmen zugeordnet. Drei Frauen- und drei Männerstimmen bestreiten den Rest und agieren auch als antiker Chor.
Beginnend bei A wie Anapher und Anakoluth über B wie Blödigkeit, die Buchstabengruppe D, E, F wie Diotima, Eleanor Rigby, Empedokles und Fehler endet das Hölderlin-Alphabet nach den restlichen Buchstaben bei X, Y, Z wie Xenophon, (Edward) Young und Zorn. F wie Fehler ist dabei nicht ganz unwichtig: „Eine seltsame Mischung von Vertrautsein mit der griechischen Sprache und lebhaftem Erfassen ihrer Schönheit und ihres Charakters mit Unkenntnis ihrer einfachsten Regeln und gänzlichem Mangel an grammatischer Exaktheit“ attestierte der Herausgeber der Werkausgabe, Norbert von Hellingrath, 1910 dem Übersetzer Hölderlin, dem in seiner Sophokles-Übertragung etwa tausend Fehler unterlaufen seien. Dass sich Ödipus „frohlockend“ die Augen ausgestochen habe, stehe bei Sophokles nicht, merkt auch Heiner Müller an. Und der Philosoph Peter Trawny diagnostiziert, dass bei Hölderlin „eine ganz eigene Sprache ausbricht“, ausbricht wie eine Krankheit, so möchte man das Bild vervollständigen.
Dem Werk eines Dichters, das man sonst eher in den Tornistern deutscher Soldaten zweier Weltkriege verortet, stellt Frank Witzel in seinem Hörspiel das Komische gegenüber. Er baut Heiner Müllers „Hamletmaschine“ zur „Hölderlinmaschine“ um – eine hochkomische und parodistische Travestie. Damit eröffnet Witzel einen weiteren Resonanzraum, denn das Original des Müller-Textes aus dem Jahr 1977 dürfte noch in mehr Ohren nachklingen als das Spätwerk Hölderlins.
Was hat man nach rund 90 Minuten gehört? Ein multiperspektivisches Hölderlin-Diorama, bei dem man sich, je nachdem worauf man sein Gehör richtet, an immer neuen Details und Ansichten erfreuen kann. Ein Werk, das sich offensiv einem belehrenden Gestus verweigert, sich keinem vermuteten Publikumsgeschmack anbiedert und das dennoch beziehungsweise genau deswegen lehrreich und unterhaltsam ist. Kurz, ein gutes Stück, auf das man mit den Fingern zeigen muss, wenn man erklären will, was die Kunstform Hörspiel so alles kann.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 21/2020
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