Metamorphosen und Identitäten
Claudia Weber: Sunny stirbt
SWR Kultur, 22.09.2024, 0.05 bis 1.00 Uhr
Tim liegt bewegungsunfähig vor dem Kühlschrank. Aus einer zerschmetterten Salatschüssel kommt eine Raupe hervor. Es beginnt ein Gespräch über Pläne und Namen. Claudia Webers hochpoetisches Hörspiel „Sunny stirbt“ gewinnt bei jedem Wiederhören.
Nachdem sie 21 Jahre in einem unruhigen Halbschlaf gedöst hatte, der ab und zu durch clowneske Wachphasen unterbrochen wurde, stemmte sie sich an einem 22. April nur einmal hoch und warf sich wie ein Felsen auf seinen Körper: die Multiple Sklerose. Plötzlich liegt Tim, der Protagonist von Claudia Webers erfahrungsgesättigtem Hörspiel „Sunny stirbt“, bewegungsunfähig vor seinem Kühlschrank und aus einer zerschmetterten Salatschüssel kommt ihm eine Raupe entgegen. Es entspinnt sich ein Dialog zwischen Wesen, deren Erfahrungswelten sich denkbar fremd, deren Bedürfnisstrukturen aber ganz ähnlich sind.
Tim (Markus Hennes) entwickelt als „Technical Writer“ Bedienungsanleitungen und Pläne und hat deshalb die potenziell katastrophalen Folgen von Fehlbedienungen im Blick. Er würde so viele Bedienungen anleiten, dass er ohne Anleitung überhaupt nichts mehr bedienen könne, heißt es ironisch im Stück. Die Raupe (Marie Dziomber) hingegen folgt schmatzend den vorgezeichneten Weg der Befriedigung ihrer grundlegenden Bedürfnisse und orientiert sich lediglich an Hell-/Dunkel-Kontrasten.
Anklänge an Saint-Exuperys kleinen Prinzen („Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“) werden aber gleich im Hörspiel brüsk zurückgewiesen. Denn Claudia Webers Hör(spiel)welt ist keine Welt des Kitsches. Was sich aus der Begegnung von Mensch und Raupe entwickelt, ist ein wilder Ritt durch die Metaphernfelder von der Entomologie bis zur Schlachtfeldanalyse in militärischen Begriffen, vom Therapie- bis zum Streitgespräch.
Durch das „sonntagvernichtende Hobby des Vaters“ kennt sich Tim einigermaßen mit der Bestimmung von Insekten aus und so identifiziert er die mintgrüne Raupe als Zist-Eule (Autographa pulchrina). Er wird sie Sunny nennen. Kurz nach der Diagnose seiner Krankheit hat Tims Vater ihm ein Zitat von Gottfried Benn in sein Insektenbestimmungsbuch geschrieben: „Deine Krankheit ist der Austritt aus vertrauten Formen des Lebens. Sie ist Übergang in das Ungewisse. Die eigentliche Gefahr ist die Wiederkehr in vertraute Form.“
Wechselwirkungen außer Kraft setzen
Vertraute Formen sind für Tim die Pläne und Systeme, mit denen er interagiert. Doch genau das System, das die Voraussetzung für seine Arbeit bildet, wendet sich gegen ihn. Sein Körper versagt seinen Dienst, und Tim stellt sich die Frage „wie man Pläne in der existenziellen Unmöglichkeit von Plänen macht“. Die Lösung bestehe darin, das System zu zerstören, indem man seine Wechselwirkungen außer Kraft setzt. Kein einfacher Weg, wenn das System selbst schon autodestruktiv ist.
Erstaunlicherweise glaubt die Raupe, die sich zu einem Vollinsekt ausbilden wird, nicht an (transformative) Prozesse – sondern an Identitäten. Sie rät Tim seiner Krankheit einen Namen zu geben, um sie bitten zu können, ihm aus dem Weg zu gehen. Doch das ist hier kein triviale therapeutischer Rat, sondern vielmehr die Aufforderung das Spielfeld zu wechseln und „Scotland Yard“ nach „Tic-Tac-Toe“-Regeln zu spielen.
Claudia Weber gelingt es aus oberflächlich betrachtet einfachen Wortverbindungen einen „semantischen Steinbruch“ zu machen, wie sie es an dem Werbespruch für ein Muskelrelaxans demonstriert, der verspricht: „Die Erholungszeit lässt sich mindestens um die Hälfte beschleunigen.“ Dabei ist das Hörspiel mit einem so hohen Grad von Komplexität ausgestattet, dass man höllisch aufpassen muss, auf welchem Spielfeld einen der Text gerade abgesetzt hat – und vor allem, nach welchen Regeln gespielt wird.
Und weil nichts so ist, wie es scheint, erweist sich die Bestimmung der Raupe als Zist-Eule am Ende als falsch. Es handelt sich vielmehr um eine Flor- oder Kieferneule (Panolis flammea), die andere Grundbedürfnisse hat als der ihr verwandte Nachtfalter. Besonders, wenn es um ihre Metamorphose geht. „Pläne taugen nicht, es braucht Namen“, ist denn auch einer der letzten Sätze des Hörspiels.
Benennungen dienen also nicht als therapeutischer Abwehrzauber, sondern sind Ergebnisse trennscharfer Analysen. Aber es gibt noch ein zweites Fazit: Es ist wichtig, die Illusion aufrechtzuerhalten, einen Plan gehabt zu haben, wenn man an der Realität zerschellt – und die Realität ist die tödliche Krankheit. „Sunny stirbt“, von Claudia Weber selbst inszeniert und komponiert, enthüllt bei jedem Wiederhören neue Details und eröffnet neue Denk- und Erfahrungsräume. Große Kunst eben, die es nicht nötig hat, ihren Anspruch laut herauszuschreien.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 27.09.2024
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