Laudatio auf Gerhard Rühm zum Karl-Sczuka-Preis 2015
Von Christina Weiss
„Radiophones Sprechoratorium“ nennt Gerhard Rühm sein von der Jury in diesem Jahr mit dem Karl-Sczuka-Preis ausgezeichnetes Hörstück „Hugo Wolf und drei Grazien, letzter Akt“, das der WDR produziert hat. Es ist eine Komposition aus Sprache und Wortklang, die beim Zuhören zweifach verführt: sie umfängt uns mit Empathie, die zu dem Komponisten Hugo Wolf führt, der aufgrund einer Syphilisinfektion früh geistig umnachtet starb, dieses Redeoratorium lockt uns aber auch in den Reizraum der Sprache als Spielfeld aus Lauten und Klängen, die Wortfügungen wie im Kaleidoskop aufsprengen. Die Bedeutungen, die aus dem semantischen Kraftfeld der Einzelwörter und Wortfragmente herausklingen, provozieren zugleich in dem von ihnen geschaffenen Imaginationsraum subjektive Deutungsfügungen.
In diesem Oratorium von „gelassener Melancholie“ (so die Jury in ihrer Begründung) lässt uns Gerhard Rühm teilhaben an der Geschichte eines Künstlers, aus dessen verwirrter Ratlosigkeit am Ende seines Lebens die Klänge, Wörter, Geräusche und Musik seiner Erinnerungen hervordrängen. Das Palimpsest aus den in ihm sich überlagernden Erfahrungen wird Schicht um Schicht abgetragen zu einer Montage aus Bildfragmenten und Klangmomenten. Hier erleben wir aber auch die Erfahrung von Sprache als akustisches und semantisches Material wie sie nur vermittelt werden kann durch die künstlerische Gelassenheit eines Altmeisters der poetischen Spracherforschung wie Gerhard Rühm es ist.
Seit seinen künstlerischen Anfängen als Mitbegründer der Wiener Gruppe in den sechziger Jahren hat er das Material der Sprache als musikalisches und visuelles Energiefeld experimentell erforscht. Er studierte Musik und Komposition und lehrte an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg freie Grafik, er schrieb 1952 seine ersten Lautgedichte, er komponierte Einzelwortkonstellationen zu konkreter Poesie und ließ Textzeichungen und Bleistiftmusik als expressive Denkspuren auf der Seite tanzen: das zeigt die Spannbreite dieses Künstlers, dem keine Tücke, keine List und keine Verlockung der Sprache fremd geblieben sind. Er hat die Abgründe der Sprache ausgelotet und ist allen sinnlichen Verführungen des Wortmaterials gefolgt, um zu exemplifizieren, wie Sprache funktioniert und wirken kann. Sprechklänge und Textbilder bringen im offenen Kontext jenseits der syntaktischen Fügungen ihre semantische Energie zum Schillern.
In dem Redeoratorium „Hugo wolf und drei Grazien“ [Kritik hier] führt uns Gerhard Rühm durch drei Phasen sprachlicher Musikalisierung. Es gibt eine sogenannte „Einführung“, die sich als raffiniert narratives Präludium entpuppt, in dem der Autor Erläuterungen über die Machart seines Stückes verknüpft mit „merkwürdig“ passenden Fügungen, die sich aus dem Leben Hugo Wolfs ergeben. Es ist eine sprachlich bannende Erzählung aus dem literarischen und literaturhistorischen Interesse des Autors einerseits und anekdotischen Momenten aus dem Leben des Komponisten andererseits, geradezu brilliant „schlitzohrig“ komponiert – man könnte auch erinnert sein an die oulipotischen Muster lliterarischen Schreibens, wie sie die Gruppe OULIPO (Ouvroir de littérature potentielle / Werkstatt für potentielle Literatur) in der Nachfolge von Raymond Queneau, zu der als einziger deutschsprachiger Autor auch Oskar Pastior gehörte, ihren Texten zugrunde legte.
Herzerfrischend subjektiv bringt Gerhard Rühm seine eigene Geschichte der Spracherforschung und seine literarische Komposition in einen Zusammenklang mit den Wortklängen und Geräuschen aus dem Lebens Hugo Wolfs. Der Beginn dieses Hörstücks ist ein hinreißend subjektives Spielfeld einer poetologischen Selbstdarstellung – Rühm präsentiert uns einen Parcours durch seine Lust an den Möglichkeiten des sprachlichen Materials, inspiriert von biographischen Details aus dem Leben Hugo Wolfs.
Dieses narrative Präludium wird in den folgenden Passagen dekonstruiert wird zu mehr und mehr musikalischen Strukturen, die in einem Schlussakkord der Stimmen und Vokale enden. Dieser Akkord, der in seiner radikalen technisch gehaltenen fast Schmerz erzeugenden Dauer Nachdenken provoziert, markiert das Ende eines Künstlerlebens – ein Schrei vielleicht, eine Erstarrung gewiss. Klingt so der Tod? Vielleicht ist der Tod, wenn wir ihn erfahren, ein Akkord der Stimmen unseres Lebens.
Im zweiten Teil seines Redeoratoriums realisiert Gerhard Rühm seine angekündigte Komposition aus monovokalen Wörtern, die dann im dritten Teil zusammen mit der Musik einer Fuge den Text weiter dekonstruiert wird und in kanonartiger Folge die hellen Vokale, a-e-i aus Wortbruchstücken klingen lässt. Die Sprache ist zu Lautgestalten fragmentiert, die allerdings immer noch Wörter assoziieren und immer noch den Deutungsbezug auf die Erzählung des Präludiums zulassen. Die Vokale O und U stehen für Hugo Wolf, die Vokale A-E-I ergeben den Wortschatz der drei von Wolf geliebten Frauen: Vally, Melanie und Frieda, der drei Grazien, ihre benannte Dreiheit trägt alle drei Vokale im Wort. Es sind die Stimmen von Gerhard Rühm und Monika Lichtenfeld, die den jeweiligen Vokalpart in unterschiedlichen Tonhöhen intonieren.
Die Grazien sind Hugo Wolfs persönliche Schicksalsgöttinnen, seine klingenden Selbstlaute, die sich ergänzend über seine persönlichen Vokale U und O legen und mit ihm die Fuge aus 5 Stimmen seines Lebens ergeben. Der Dreiklang der Frauenstimmen lässt Liebeserinnerung, Liebessehnsucht, Liebesrivalität erklingen, während der Wortschatz mit den Vokalen O und U, der Hugo Wolf und sein aus der Verwirrung erschaffenes Alter Ego repräsentiert, eher seine suchende Ratlosigkeit zum Ausdruck bringt mit vielen UND und DU, MUSS, DRUCK, HOFFT und TOT.
Er spricht seinen Tod voraus – die Stimmen der drei Grazien hallen wider in seinem Kopf – sie begleiten die mehrstimmige Fuge seines Lebensendes, sie bilden mit ihm zusammen den letzten Akkord zum Tod. Redeoratorium nannte Gerhard Rühm sein Hörstück in Anlehnung an Johann Klaj, einen der Dichter des barocken Kreises der Pegnitzschäfer. Die Dichter des Barock haben den Tod besungen. Gerhard Rühm hat uns mit seinem Oratorium auf den Tod das einfühlsamste Stück des diesjährigen Karl-Sczuka-Preis-Wettbewerbs geliefert, indem er das Ende eines Künstlerlebens mit den kraftvollen und sinnlichen Klängen der erlebten Lieben, der Musik seines Lebens und den Geräuschen, die den Erinnerungen anhaften, auflädt und damit dem Ende, dem Tod, einen ebenso schmerzlichen wie versöhnlichen Schlussakkord setzt.
Die Wörter der Erinnerung brauchen, weil alle Wörter in unserer Erinnerung ihre eigenen Bedeutungsfelder haben, nur noch Bruchstücke ihrer Laute, um alle Schichten des Lebenspalimpstes wieder lesbar zu machen – die Wörter als Wiederauferstehung des Erlebten – das ist eine der reifsten und zugleich sinnlichsten Folgen der Spracharbeit der konzeptionellen konkreten Poesie: das Wort, freigesetzt von der syntaktischen Folge, ist Klang und Bedeutungshof, fordert Bedeutung heraus und ist zugleich eine Liebeserklärung an die Sprache als Träger der Erinnerungen, die uns ausmachen. Danke dafür und herzlichen Glückwunsch, Gerhard Rühm!
Christina Weiss, Donaueschingen, 18.10.2015.
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