Lärm im Kopf
Jan Georg Schütte: Der Alltag des Herrn Held
NDR Info So 25.11. 21.05 bis 21.57 Uhr
„Was hast du denn da?“ Franziska Held (Gabriela Maria Schmeide) fragt ihren Mann Thorsten (Jan Georg Schütte) beim gemeinsamen Abendessen nach dem blauen Auge. Er antwortet mit einer Geschichte, die ihn als für Geräusche überempfindlichen Soziopathen zeigt. Das müsse bei so einem Gespräch in der U Bahn gewesen sein, erzählt er. „Mit einer Mutter, also eigentlich ging es ums Kind.“ Dessen „Gedröhne“ mit einer riesigen Tüte „Crunchy Chips“ habe er notwendigerweise „unterbunden“. Denn das sei ja auch „einfach zu viel für so ein Kind.“ Außerdem sei das Kind in einem Buggy festgeschnallt gewesen, seine erzieherische Maßnahme, dem Kind die Chipstüte aus den Händen zu reißen, sei daher ein Leichtes gewesen. Empört berichtet er, dann habe sich plötzlich ein wildfremder Mann eingemischt – dabei sei es wohl zu der Verletzung gekommen.
Für sein auf Improvisation setzendes Hörspielprojekt „Altersglühen oder Speed Dating für Senioren“ (NDR) gewann Jan Georg Schütte im vorigen Jahr den Deutschen Hörspielpreis der ARD (vgl. FK 47/11). Außerdem war „Speed Dating für Senioren“ in der Runde der letzten drei in diesem Jahr für den renommierten Hörspielpreis der Kriegsblinden nominiert (vgl. FK 23/12).
„Der Alltag des Herrn Held“ heißt Schüttes neues Hörspiel, das er als Autor, Regisseur und Darsteller in Personalunion wieder beim NDR produziert hat. Der Protagonist Thorsten Held durchlebt eine Seinskrise. Aus seiner subjektiven Wahrnehmung heraus sind ohne Unterschied alle Geräusche, die die Menschen und Dinge in seiner Umgebung verursachen, nervtötend laut. Nicht nur Kinder stören ihn, auch das Dröhnen der Maschinen auf seiner Arbeit in der Autofirma oder das Piepsen des Zugangscodes am Eingang kann er kaum ertragen. Vor allem aber das Rühren mit dem Teelöffel, wenn seine Frau ihren Tee zuckert, macht ihn wahnsinnig. Er würde gern in einer einsamen Hütte „oberhalb der Baumgrenze“ wohnen. Aber wo bitte, fragt Franziska Held mit dem Realitätssinn, der ihrem Mann fehlt, sollte ihr Sohn Max (Max Louis Schütte) dann zur Schule gehen, oberhalb der Baumgrenze?
Mit Thorsten Held hat Schütte eine Figur geschaffen, die man als stellvertretend für die Opfer der modernen Reizüberflutung sehen kann oder die für einen Menschen steht, der unter dem in jüngster Zeit viel thematisierten Burnout-Syndrom leidet. In erster Linie aber ist Thorsten Held ein Charakter, der mit seiner gestörten Welt- und Selbstwahrnehmung eine hervorragende Entwicklungsgrundlage für komische Szenen bietet, die im Alltag der meisten Menschen ihre Anknüpfungspunkte finden dürften. Geräuschüberempfindlichkeit und gesteigerte akustische Wahrnehmung finden auch entsprechenden Eingang in der Umsetzung, für die sich Schütte Wolfgang Seesko als Regiekollegen dazugeholt hat. Was im Hörspiel sonst Kulisse ist, ist hier durchgängig im Vordergrund präsent. An einer Stelle etwa kann man einen gesamten Arbeitstag nur anhand der Umgebungsgeräusche nachvollziehen.
Auch wenn man sich am Anfang des 52-minütigen Stücks noch fragt, weshalb genau plötzlich die Symphonie der Alltagsgeräusche zur unerträglichen Qual wird, überzeugt der irre wirkende Charakter. Helds lockere und manchmal improvisiert wirkende Dialoge kommen aus dem kaum beachteten Bereich der Comedy im Radio. Dieses Hörspiel versucht nicht große Kunst zu sein und ist mit seiner thematischen Fokussierung auf den Vorgang des Hörens, also das vom Gehirn niemals auszublendende Auffangen von Schallwellen mit den Ohren, trotzdem Radiokunst. Ein wenig auf der Strecke bleibt allerdings der Plot. Die Motivationen, die die Figuren zu ihren Handlungen treiben, sind etwas fadenscheinig. Ob Midlife-Crisis, ernste psychische Probleme oder schlicht Übermüdung – man erfährt im Lauf der Geschichte nicht, welche Krankheit der ansonsten sehr plastisch entwickelte Hauptcharakter eigentlich hat.
Thorsten Held sucht schließlich Hilfe in einem Online-Forum von Leidensgenossen. Ein Nutzer namens „Lonely Man“ versucht ihn zum Selbstmord zu überreden, wer so des Lärmes überdrüssig sein, der sei bereit für die „absolute Stille“. Doch dieses rigorose Mittel muss Thorsten Held nicht anwenden, denn ihm gelingt es am Ende, seine Geräuschphobie zu kurieren. Er schafft es, indem er einen Vorschlag umsetzt, den er im gleichen Forum von „Stille Biene“ erhalten hatte, die ihn aufforderte, auf die Suche nach einem ihm angenehmen Geräusch zu gehen. Und er findet tatsächlich eines, das ihn „heilt“ – das Luststöhnen seiner Frau, als die mit seinem Kollegen Olaf Nert (Max Herbrechter) schläft. Die Welt ist wieder in Ordnung, ab jetzt gibt es für ihn nur noch schöne Klänge. Auch mit dieser etwas seltsamen Auflösung bietet „Der Alltag des Herrn Held“ ein kurzweiliges und vergnügliches Hörerlebnis.
Rafik Will – Funkkorrespondenz 49/2012
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