Klarsichtige Modernität
Natascha Gangl und Rdeča Raketa: Einsame Ameisen Amnesie. Ein Klangcomic frei nach Anestis Logothetis
Ö1 (ORF) , So 28.11.2021, 23.00 bis 23.50 Uhr
Dass das Speichermedium Schrift dem Werk vorausgeht, ist eine These des griechisch-österreichischen Komponisten Anestis Logothetis: „So entsteht das Werk aus der Aufzeichnung wie ein Strom aus seiner Quelle“, schrieb Logothetis (1921-1994) und die Schriftstellerin und Hörspielmacherin Natascha Gangl hat sich zusammen mit dem Duo Rdeča Raketa – das sind Maja Osojnik und Matija Schellander – mit dem Werk des Komponisten auseinandergesetzt. In der Zusammenarbeit von Gangl und Rdeča Raketa (slowenisch für: rote Rakete) sind schon so großartige Hörspiele entstanden wie „Wendy Pferd Tod Mexiko“, das 2018 mit dem Preis der Jury des Berliner Hörspielfestivals ausgezeichnet wurde (vgl. MK 11/18), und der frei nach Texten von Unica Zürn gestaltete Klangcomic „Die Revanche der Schlangenfrau“, der 2020 den österreichischen ‚Hörspielpreis der Kritik‘ erhielt.
Ihr rund 50-minütiger anagrammatisch betitelter Klangcomic „Einsame Ameisen Amnesie“, der für das Kunstradio des Österreichischen Rundfunks (ORF) entstanden ist und im Programm Ö1 gesendet wurde, folgt in fünf Etüden bisher unveröffentlichten Skizzenblättern von Anestis Logothetis, deren zentrale Motive Insekten sind und die anlässlich seines 100. Geburtstag von der Tochter des Komponisten erstmals für eine Interpretation und Neukomposition zur Verfügung gestellt wurden. Logothetis gilt seit Ende der 1950er Jahre als einer der Erfinder der grafischen Notation für Neue Musik. Seine Partituren, die aus Linien, Flächen und bisweilen in einer Legende erklärten Symbolen für Länge, Lautstärke, Klangfarben- und Tonhöhenwechsel bestehen, sind schön anzuschauen, aber letztlich nur ein flächiges Zwischenprodukt für die Realisierung eines linearen zeitbasierten Kunstwerks, das sich in einem dreidimensionalen Klangraum realisiert. Ähnliche Notationsformen gab es im Hörspiel parallel zu Logothetis bei Ferdinand Kriwet (1942-2018) und gegenwärtig findet man sie bei dem Hörspielmacher und Komponisten Martin Daske, der seine Partituren sogar als dreidimensionale Skulpturen anlegt.
„Die Linien am Blatt werden da, wo sie besonders dicht sind, zu Buchstaben, die Linien ziehen – und ziehen und ziehen sich übers Blatt, bis sie ihre höchste Spannung erreicht haben […] oder die Linien sich in Buchstaben und die Buchstaben sich zu Worten drücken, die sich über die Linien legen, die wie Leitungen funktionieren“, so beschreibt Natascha Gangl ihren Eindruck beim Lesen der Partiturblätter.
Doch jenseits der ‚linearen‘ Spannungsbögen gibt es eine wörtliche Dimension. Ob Logothetis aus einem Lexikon abgeschrieben habe, fragt sich Gangl und verwirft die Frage gleich wieder, denn die auf den Blättern aufscheinenden Wörter haben die lexikalische Ordnung verlassen. Und: „Je näher man dem einzelnen Wort kommt, desto größer das Bezeichnete. Worte werden zu Leibern, Organismen, klangkörperlichen Lebewesen, deren Wesen sich in der Art des Notats zeigt.“
Die Wörter, um die es hier geht, sind die taxonomischen Bezeichnungen von Insekten auf Latein wie beispielsweise „Bombus terrestris“ (die große Erdhummel), „Psithyrus terrestris“ (die keusche Kuckuckshummel) und „Apis dorsata“ (die Riesenhonigbiene). Sie werden im Hörspiel im Wortklang ihrer Bezeichnung und nicht etwa im Klang der von ihnen verursachten Geräusche hörbar, anders als beispielsweise in Hörspielen des kürzlich verstorbenen Hartmut Geerken („Bombus terrestris“, vgl. FK-Heft Nr. 9-10/00, und „Bombus terrestris revisited fünf – live“, vgl. FK-Heft Nr. 28/02).
„Die Musik ist Transfer-Abenteuer. Die Aufgabe des veritablen schöpferischen Aktes liegt im Transferverfahren der Wechselbeziehungen zwischen Objekt und Subjekt“, zitiert Natascha Gangl Logothetis, zoomt sich in den digitalisierten Scan eines Logothetischen Blattes hinein und entdeckt dort „die kleinsten Bewohner des kryptischen Bodens“. Diese kleinsten Bewohner sind die Insekten bzw. die Wörter, die sie bezeichnen. Aus der Materialität der Schrift erschafft Gangl zusammen mit Rdeča Raketa das Hörspiel, ähnlich wie die die Insekten, die „den festen Boden untergraben, bis er fruchtbar wird“.
Maja Osojnik und Matija Schellander reagieren auf ihre Weise und mit ihren musikalischen, meist elektronischen Mitteln auf die Skizzen von Logothetis. „Aus der Einsichtigkeit in die Aufzeichnung kann eine im Werk wohnende Mehrschichtigkeit abgewonnen werden“ steht als Motto vor der zweiten Etüde und genauer kann man kaum beschreiben, was Rdeča Raketa mit ihrer Vorlage anstellen. In den Überlagerungen von Stimmen und Instrumenten bleiben die einzelnen Bedeutungsschichten immer transparent – ob in analog-gesanglicher oder in digital-gestanzter Form.
Die fünfte Etüde ist den Ameisen gewidmet, ihrer funktionalen Ausdifferenzierung in einer hierarchischen Staatlichkeit, ihren pheromongesteuerten (Fort-)Schritten und ihrer kollektiven Existenzweise, die auch in einen kollektiven Untergang münden kann. Das Hörspiel endet nach den fünf Etüden mit einem bemerkenswert pessimistischen Epilog, der von Maja Osojnik gesungen wird.
„Der Mangel an wirklich modernen Produktionen ist es letztlich, der uns der Sicht unseres Weges beraubt und uns geistig im Nebel zurücklässt“, so wurde Logothetis schon im Lauf des Hörspiels zitiert. Ein Motto, das sich jede Avantgarde zu jeder Zeit auf ihre Fahnen schreiben könnte. Dass aber 50 Jahre alte musikalische Skizzenblätter heute noch so modern und gegenwärtig klingen können, ist das Verdienst von Natascha Gangl und Rdeča Raketa. Klarsichtige Modernität gegen konservatives Kunstraunen ist eben keine Frage des Alters.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 25-26/2021
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